Cédric Villani (* 5. Oktober 1973 in Brive-la-Gaillarde) ist ein vielfach preisgekrönter (u. a. Fields-Medaille 2010) französischer mathematischer Physiker und Mathematiker sowie Politiker.
Leben und Werk
Villani studierte ab 1992 an der École Normale Supérieure. 1994 erwarb er seine Agrégation. 1998 promovierte er bei Pierre-Louis Lions. Villani ist seit 2001 Professor an der École normale supérieure de Lyon. Seit 2009 ist er Direktor des Institut Henri Poincaré in Paris. Seit 2007 ist er Mitglied des Institut Universitaire de France.
Villani befasst sich insbesondere mit partiellen Differentialgleichungen aus der statistischen Mechanik, speziell der Boltzmann-Gleichung, wo er als erster Konvergenzsätze für Anfangswerte nicht nahe dem Gleichgewicht beweisen konnte. Dies sind quantitative Versionen (Rate der Relaxation zum Gleichgewicht hin) des H-Theorems von Ludwig Boltzmann. Er befasste sich auch mit Anwendungen der Theorie des optimalen Transports (die Theorie geht auf eine Fragestellung von Monge zurück und wurde insbesondere durch Kantorowitsch entwickelt) in der Differentialgeometrie – insbesondere gab er mit ihrer Hilfe mit John Lott untere Schranken der Ricci-Krümmung in allgemeinen metrischen Räumen (Längen-Räume).[1]
Die Fields-Medaille erhielt er in erster Linie für seine Arbeiten zur Boltzmann-Gleichung und zur nichtlinearen Landau-Dämpfung aus den kinetischen Gleichungen der Plasmaphysik (Vlasov-Gleichung). Das entspricht den mathematisch sehr unterschiedlichen Fällen von kinetischen Gleichungen mit Kollision (Boltzmann-Gleichung) und ohne Kollision (Plasmaphysik mit Coulomb-Abstoßung, Astrophysik zum Beispiel von Sternen in Galaxien unter anziehender gravitativer Wechselwirkung). Im Fall ohne Kollision konnte er die Landau-Dämpfung auch im nichtlinearen störungstheoretischen Fall begründen. Die Lösung zeigte auch unerwartete Verbindungen zur KAM-Theorie und dem Phänomen des Plasmaechos und beleuchtete die besondere Rolle der Regularitätsannahmen (der Beweis erfolgte für Gevrey-Regularität und für den periodischen Fall). Der nichtstörungstheoretische Fall (Violent Relaxation) ist weniger gut verstanden. Der Fall der Boltzmanngleichung mit Kollision ist anders gelagert, hier spielt die Entropieproduktion für die Annäherung an das Gleichgewicht eine zentrale Rolle. Villani bewies unter anderem eine Vermutung von Cercignani, wonach die Entropieproduktion mindestens proportional zur Differenz der Entropie der Geschwindigkeitsverteilung und der der Gauß-Verteilung ist. Über die Entstehungsgeschichte seiner Forschungen berichtete er in dem Buch "Das lebendige Theorem" (Théorème vivant, 2012), das 2013 in deutscher Übersetzung erschien.
Im Februar 2018 übergab er einen umfangreichen Bericht (21 mesures pour l'enseignement des mathématiques, unter Leitung von ihm und Charles Torossian erstellt) an das französische Erziehungsministerium zur Reform des französischen Mathematikunterrichts.[2][3] Im März 2018 legte er den Bericht AI for humanity zur Förderung der künstlichen Intelligenz (KI) vor, mit dessen Erstellung er zuvor von offizieller französischer Seite beauftragt worden war.[4] Der auch Villani Report genannte Text gilt als französische KI-Strategie.[5]
Zu seinen Doktoranden gehören Alessio Figalli und Clément Mouhot.
Politische Karriere
Villani auf einem Treffen der
La République en Marche in Tokio
2015 berief ihn die Europäische Kommission in die siebenköpfige „High Level Group of Scientific Advisors“. 2016 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften ernannt.[6]
Villani unterstützte die Wahl der ersten Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Bei den Parlamentswahlen in Frankreich 2017 wurde Cedric Villani für die Partei La République en Marche im 5. Wahlkreis des Départements Essonne zum Abgeordneten in der Nationalversammlung gewählt.[7][8][9]
2019 kündigte er seine Kandidatur bei der Wahl zum Bürgermeister von Paris im Frühjahr 2020 an, in Konkurrenz zu dem Kandidaten seiner Partei La République en Marche (LREM), Benjamin Griveaux.[10] Nach dem Rückzug von Griveaux im Februar 2020 begannen Gespräche zwischen dessen Nachfolgekandidatin Agnès Buzyn und Villani über Bedingungen für eine Zusammenführung der beiden Kandidaturen.[11] Im Januar 2020 wurde er aus der LREM ausgeschlossen und schloss sich der im Mai gegründeten Gruppe von Ex-Mitgliedern der LREM im Parlament Écologie démocratie solidarité (EDS) an.
Preise und Ehrungen
2010 erhielt er die Fields-Medaille. 2009 erhielt er den Henri-Poincaré-Preis für innovative Arbeiten über kinetische Theorie[12] und optimalen Transport mit Anwendungen auf dissipative physikalische Systeme und Riemannsche Geometrie[13]. Ebenfalls 2009 erhielt er den Fermat-Preis und 2008 den EMS-Preis. 2007 erhielt er den Prix Jacques Herbrand der französischen mathematischen Gesellschaft, 2003 den Peccot-Vimont-Preis des Collège de France und 2001 den Louis-Armand-Preis der französischen Akademie der Wissenschaften. 2006 war er Invited Speaker auf dem Internationalen Mathematikerkongress (ICM) in Madrid (Hypocoercive diffusion operators) und 2003 Plenarsprecher auf dem Internationalen Kongress für Mathematische Physik. Seit 2012 ist er Mitglied der Academia Europaea und Ehrenmitglied der Royal Irish Academy. 2013 wurde er in die Académie des sciences gewählt. Ebenfalls 2013 war er Gibbs Lecturer und 2014 erhielt er den Joseph L. Doob Prize (für sein Buch Optimal Transport). 2011 wurde er Ritter der Ehrenlegion. 2013/14 und 2014/15 war er im Abel-Preis-Komitee. 2017 hielt Villani eine Gauß-Vorlesung (On triangles, gases, prices and men).
Die neuentdeckte Spinnenart Araniella villanii aus der Familie der Araneidae, die architektonisch anspruchsvolle und ästhetisch ansprechende Netze webt, die aussehen, als würden sie den goldenen Schnitt implementieren, wurde 2020 nach ihm benannt.[14] Die Spinne ist hellgrün und lebt unter anderem in Büschen und Wäldern im Norden Indiens, im Südwesten Irans und im Osten Kasachstans. Villani hat eine Vorliebe für Spinnen und trägt häufig eine Brosche in Spinnenform.
Schriften
- mit Giuseppe Toscani: Sharp entropy dissipation bounds and explicit rate of trend to equilibrium for the spatially homogeneous Boltzmann equation. In: Communications in Mathematical Physics. Bd. 203, Nr. 3, 1999, S. 667–706, doi:10.1007/s002200050631.
- mit Giuseppe Toscani: On the trend to equilibrium for some dissipative systems with slowly increasing a priori bounds. In: Journal of Statistical Physics. Bd. 98, Nr. 5/6, 2000, S. 1279–1309, doi:10.1023/A:1018623930325.
- Limites hydrodynamiques de l’équation de Boltzmann (d'après C. Bardos, F. Golse, C. D. Levermore, P.-L. Lions, N. Masmoudi, L. Saint-Raymond). In: Séminaire Bourbaki. Année 53, Nr. 893, 2000/2001 = Astérisque. Bd. 282, 2002, S. 365–405, (Digitalisat).
- A Review of Mathematical Topics in collisional kinetic theory. In: Denis Serre, Susan Friedlander (Hrsg.): Handbook of mathematical fluid dynamics. Band 1. Elsevier, Amsterdam u. a. 2002, ISBN 0-444-50330-7, S. 71–305.
- Cercignani’s conjecture is sometimes true and always almost true. In: Communications in Mathematical Physics. Bd. 234, Nr. 3, 2003, S. 455–490, doi:10.1007/s00220-002-0777-1.
- Optimal transportation, dissipative PDE’s and functional inequalities. In: Luis A. Caffarelli, Sandro Salsa (Hrsg.): Optimal transportation and applications. Lectures given at the CIME summer school held in Martina Franca, Italy, September 2–8, 2001 (= Lecture Notes in Mathematics. 1813). Springer, Berlin u. a. 2003, ISBN 3-540-40192-X, S. 53–89.
- Topics in Optimal Transportation (= Graduate Studies in Mathematics. 58). American Mathematical Society, Providence RI 2003, ISBN 0-8218-3312-X.
- mit Laurent Desvillettes: On the trend to global equilibrium for spatially inhomogeneous kinetic systems: The Boltzmann equation. In: Inventiones Mathematicae. Bd. 159, Nr. 2, 2005, S. 245–316, doi:10.1007/s00222-004-0389-9.
- Mathematics of granular materials. In: Journal of Statistical Physics. Bd. 124, Nr. 2/4, 2006, S. 781–822, doi:10.1007/s10955-006-9038-6.
- Hypocoercivity (= Memoirs of the American Mathematical Society. 950). American Mathematical Society, Providence RI 2009, ISBN 978-0-8218-4498-4.
- Optimal transport. Old and new (= Grundlehren der mathematischen Wissenschaften. 338). Springer, Berlin u. a. 2009, ISBN 978-3-540-71049-3.
- mit Clément Mouhot: On Landau damping. In: Acta Mathematica. Bd. 207, Nr. 1, 2011, S. 29–201, Arxiv.
- mit Pierre Cartier, Jean Dhombres, Gerhard Heinzmann: Mathématiques en liberté. La ville brûle, Montreuil (Seine-Saint-Denis) 2012, ISBN 978-2-36012-026-0 (Englisch: Freedom in Mathematics. Springer India, New Delhi 2016, ISBN 978-81-322-2786-1; auch als: Conversation sur les mathématiques. Flammarion, Paris 2019, ISBN 978-2-0814-7873-2).
- Théorème vivant. Grasset, Paris 2012, ISBN 978-2-253-17490-5 (Review von Jacques Hurtubise in: Notices of the American Mathematical Society. Bd. 61, Nr. 2, 2014, S. 172–173; deutsche Übersetzung: Das lebendige Theorem. S. Fischer, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-10-086007-1).
- mit Karol Beffa: Les Coulisses de la création. Flammarion, Paris 2015, ISBN 978-2-0813-6070-9 (mit Komponist und Pianist Karol Beffa).
- mit Philippe Dewost: De mémoire vive, Une histoire de l'aventure numérique, Éditions Première Partie, 2022, ISBN 978-2-36526-252-1.
Weblinks
Verweise
- ↑ Villani, John Lott: Ricci Curvature for metric-measure spaces via optimal transport. In: Annals of Mathematics. Bd. 169, Nr. 3, 2009, S. 903–991, JSTOR 25662148.
- ↑ Ilka Agricola: 21 mesures pour l’enseignement des mathématiques / Der Villani-Torossian-Bericht zum Mathematik-Unterricht in Frankreich. In: Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Bd. 26, Nr. 2/3, 2018, S. 121–124, doi:10.1515/dmvm-2018-0033.
- ↑ 21 mesures pour l'enseignement des mathématiques
- ↑ AI for humanity
- ↑ Marie de Chalup: Künstliche Intelligenz. Kernpunkte zur französischen KI-Strategie. In: idw - Informationsdienst Wissenschaft. Französische Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Wissenschaftliche Abteilung, 24. April 2018, abgerufen am 17. September 2019.
- ↑ Nomina di Membri Ordinari della Pontificia Accademia delle Scienze. In: Tägliches Bulletin. Presseamt des Heiligen Stuhls, 24. Juni 2016, abgerufen am 24. Juni 2016 (Lua-Fehler in Modul:Multilingual, Zeile 149: attempt to index field 'data' (a nil value)).
- ↑ le génie des maths Cédric Villani explique pourquoi il est candidat de la République en marche aux législatives (französisch)
- ↑ Législatives en Ile-de-France: En Marché et le MoDem en tête dans 86% des circonscriptions (französisch) Le Parisien. 12. Juni 2017. Abgerufen am 12. Juni 2017: „Le meilleur score est obtenu par le mathématicien Cédric Villani qui obtient 47,5 % des voix dans la 5e circonscription.“
- ↑ Offizielles Wahlergebnis beider Wahlgänge (französisch) Frz. Innenministerium. 18. Juni 2017. Abgerufen am 18. Juni 2017.
- ↑ Der Spiegel, Nr. 37, 2019, S. 77
- ↑ Mathilde Siraud: Municipales à Paris : Agnès Buzyn et Cédric Villani se sont entretenus par téléphone.
- ↑ Theorie der Boltzmann-Gleichung
- ↑ Würdigung zum Poincaré Preis, innovative work on kinetic theory and optimal transport with applications to dissipative physical systems and Riemannian geometry.
- ↑ Laura Geggel, Newly discovered neon-green spider named after the "Lady Gaga of mathematics", Live Science 2020
Träger der Fields-Medaille
1936: Lars Valerian Ahlfors, Jesse Douglas |
1950: Laurent Schwartz, Atle Selberg |
1954: Kodaira Kunihiko, Jean-Pierre Serre |
1958: Klaus Friedrich Roth, René Thom |
1962: Lars Hörmander, John Milnor |
1966: Michael Atiyah, Paul Cohen, Alexander Grothendieck, Stephen Smale |
1970: Alan Baker, Heisuke Hironaka, Sergei Nowikow, John G. Thompson |
1974: Enrico Bombieri, David Mumford |
1978: Pierre Deligne, Charles Fefferman, Grigori Margulis, Daniel Quillen |
1982: Alain Connes, William Thurston, Shing-Tung Yau |
1986: Simon Donaldson, Gerd Faltings, Michael Freedman |
1990: Vladimir Drinfeld, Vaughan F. R. Jones, Shigefumi Mori, Edward Witten |
1994: Jean Bourgain, Pierre-Louis Lions, Jean-Christophe Yoccoz, Efim Zelmanov |
1998: Richard Borcherds, Timothy Gowers, Maxim Konzewitsch, Curtis McMullen |
2002: Laurent Lafforgue, Wladimir Wojewodski |
2006: Andrei Okunkow, Grigori Perelman, Terence Tao, Wendelin Werner |
2010: Elon Lindenstrauss, Ngô Bảo Châu, Stanislaw Smirnow, Cédric Villani |
2014: Artur Ávila, Manjul Bhargava, Martin Hairer, Maryam Mirzakhani