Keimbildung oder Nukleation ist der grundlegende Prozess, bei dem sich an einer Keimstelle ein Nukleationskeim bildet, der als "Startkomponente" einen Phasenübergang erster Ordnung einleitet.
Beispiele für einen Phasenübergang sind
Bei stärkerer Übersättigung oder Unterkühlung kann die Keimbildung spontan erfolgen.[1] Lokale Dichtefluktuationen (statistische Schwankungen (=Fluktuationen) des Aufenthaltsortes der Moleküle nach Mikroclusterbildung auf molekularer Ebene) führen dabei zu Dichte- und Druckunterschieden (wie sie auch bei der Thermokonvektion auftreten) und so zur Keimbildung.
Auch die allgegenwärtige kosmische Strahlung erzeugt stoßionisierte Moleküle und bildet so (wie in einer Nebelkammer) Kondensationskeime für Nebel- und Wolkenbildung.
Wesentliches Merkmal der Keimbildung ist, dass die neue, bei den gegebenen Bedingungen thermodynamisch stabile Phase, zunächst durch Keime aus der alten, metastabilen Phase gebildet wird. Unter einem einzelnen Keim versteht man hierbei einen kleinen in der Regel nur wenige Nanometer umfassenden räumlich homogenen Bereich der neuen Phase innerhalb der alten Phase.
Die Bildung dieser typischerweise nur nanometergroßen Keime ist zunächst kinetisch gehemmt (bei kinetischer Hemmung ist die Reaktionsgeschwindigkeit sehr klein und deswegen eine Aktivierungsenergie nötig;[2] siehe dazu auch Sterische Hinderung). Flüssigkeiten lassen sich unterkühlen und überhitzen. Der Grund für diese Hemmung liegt in der Arbeit, die aufgebracht werden muss, um die gekrümmte Oberfläche eines kleinsten Keims (z. B. ein kugelförmiges Tröpfchen) der neuen Phase zu bilden. Für kleinste Tröpfchen oder Kristalle ist diese Oberflächenarbeit größer als der Energiegewinn aus dem Übergang in die neue, stabile Phase. Die daraus entstehende freie Energiebarriere nennt man Keimbildungsbarriere und die Arbeit, die aufgebracht werden muss, um diese Barriere zu überwinden, Keimbildungsarbeit (vgl. unten Thermodynamik). Der Bereich des Phasendiagramms, in dem die Keime unterhalb der kritischen Keimgröße bleiben, wird Ostwald-Miers-Bereich genannt.
Sind jedoch einmal Keime, die größer sind als die kritische Keimgröße, aus thermischen Fluktuationen gebildet, so wachsen sie schnell zur makroskopischen Phase an. Keimbildung kann damit auch als Prototyp eines aktivierten Prozesses verstanden werden.
Die Nukleationsrate oder Keimbildungsrate beschreibt, wie viele Keime der neuen Phase pro Volumen- und Zeiteinheit gebildet werden. Diese Keimbildungsrate hängt stark exponentiell von der Keimbildungsarbeit ab: je höher die Keimbildungsarbeit und damit die Barriere zur Keimbildung, desto niedriger die Rate (vgl. unten Kinetik).
Keimbildung ist ein allgegenwärtiger Prozess. Beispielsweise bildet Rauheit an einer Behälterwandung Keimstellen für ausgasendes CO2. Feinstaub und sonstiger Schwebstaub können Kondensationskeime bei der Bildung von Nebel- oder Regenwolken liefern. In einem Wärmekissen liefert ein umgeknicktes Metallplättchen die nötigen Kristallisationskeime.
Für die Industrie ist die Kenntnis der Keimbildungskinetik von höchstem Interesse, z. B. um den Tropfenschlag in Gasturbinen oder den Siedeverzug in Verdampfern zu verhindern oder um die Bildung des Kondensstreifens bei Düsenflugzeugen zu kontrollieren. Die Nukleation spielt darüber hinaus eine zentrale Rolle in der Verfahrenstechnik von Polymeren, Legierungen sowie manchen Keramiken, aber auch bei der Kontrolle bzw. Verhinderung der Kristallisation (z. B. bei Halbleitermaterialien, metallischen Gläsern oder Honig).
Electrofreezing ist ein Verfahren, durch das die Kristallisation von Wasser und anderen Flüssigkeiten beim Gefrierprozess gezielt durch das Anlegen eines elektrischen Feldes ausgelöst werden kann. Dieses physikalische Phänomen ist seit 1861 bekannt.
Ein Kondensationskeim oder auch Kondensationskern erleichtert die Keimbildung und die folgende Kondensation eines gasförmigen Stoffes. Ein solcher Keim kann eine Verschmutzung sein, wie ein Staub-, Salz- oder Rußpartikel, oder ionisierte Gasmoleküle, wie bei der Nebelkammer. Der Nachweis von Kondensationskernen gelang P. J. Coulier im Jahr 1875.[4]
Kristallisationskeime oder Kristallisationskerne sind feindisperse oder makroskopische, feste Partikel in einer fluiden Phase. Sie erleichtern die Kristallisation, also die Bildung von Kristallen, die sonst nur aus übersättigten Medien möglich wäre. Dabei kann zwischen Erstarrungs-, Resublimations- oder Ausfällungsvorgängen unterschieden werden.
Die Kristallisation aus Lösungen sollte beginnen, sobald das Löslichkeitsprodukt der gelösten Substanzen überschritten ist. Dies wird meistens jedoch nicht beobachtet. Beim Aufbau einer neuen Phase muss nämlich beachtet werden, dass sich die zugehörige Änderung $ \Delta G $ der Freien Enthalpie aus zwei konkurrierenden Termen zusammensetzt:
Bei größeren Kristallen überwiegt der Volumenanteil, für sehr kleine Kristalle dagegen der Oberflächenterm, weshalb man hierbei von kinetisch gehemmtem Kristallwachstum spricht. Dies wird durch die Anwesenheit von Kristallisationskeimen umgangen.
In Schmelzen entstehen Kristallisationskeime am Beginn eines Erstarrungsvorgangs von kristallin aufgebauten Elementen, Legierungen und Verbindungen. Sie bilden Ausgangspunkte für deren weitere Kristallisation. Eine Gruppe von Atomen, die beim Erreichen der Erstarrungstemperatur zufällig eine Anordnung im Kristallsystem des betreffenden Stoffes eingenommen hat, verbleibt in dieser Position unter Abgabe von thermischer Energie.
Wegen ihrer großen technischen Relevanz werden Nukleationsprozesse seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts systematisch untersucht. Substantielle Ergebnisse liegen bisher vor allem für den Phasenübergang gasförmig-flüssig, Kristallisation sowie für die Gefügeänderung in wenigen Metallen vor. Die hierfür aufgestellten Theorien werden mangels Alternative häufig auf die restlichen Systeme übertragen.
Bis heute herrscht aufgrund ihrer einfachen Struktur die klassische Keimbildungstheorie (classical nucleation theory)[9][10][11][12][13] vor, obwohl insbesondere für den gasförmig-flüssig-Übergang wiederholt gezeigt wurde, dass ihre Vorhersagen typischerweise um mehrere Größenordnungen(!) von der Realität abweichen, z. B. bei Argon um mehr als 20 Größenordnungen.[14][15] Solch große Abweichungen zwischen Theorie und Experiment sind nahezu einzigartig in der gegenwärtigen Naturwissenschaft. Dies ist umso erstaunlicher, als es sich im Wesentlichen um ein Problem der klassischen Physik handelt.
Die klassische Keimbildungstheorie macht einige grundlegende, vereinfachende Annahmen, die eine Beschreibung des Prozesses ermöglichen. Ein Großteil dieser Näherungen lässt sich unter dem Begriff ‚Kapillaritätsnäherung‘ zusammenfassen: Mit dieser Näherung wird angenommen, dass auch die kleinsten (mikroskopischen) Keime bereits die gleichen (makroskopischen) Eigenschaften der neuen Phase besitzen.
Zur Veranschaulichung der klassischen Keimbildungstheorie wird im Folgenden das Beispiel der Kondensation eines Tröpfchens aus einer übersättigten Gasphase verwendet. In diesem Fall wird der Prozess üblicherweise bei konstanter Temperatur betrachtet, und die treibende Kraft ist die Übersättigung.
Bei einer übersättigten Gasphase ist bei gegebener Temperatur $ T $ der aktuelle Druck $ p $ höher als der Gleichgewichtsdampfdruck $ p_{\mathrm {eq} }(T) $:
Die reversible Arbeit, die notwendig ist, um aus dieser übersättigten Gasphase ein flüssiges Tröpfchen zu formen, d. h. die Keimbildungsarbeit, lässt sich berechnen. Dazu wird ein Prozess bei konstantem Druck $ p $, konstantem Volumen $ V $ und konstanter Teilchenzahl $ N $ betrachtet. Das relevante thermodynamische Potential ist also die freie Gibbs-Energie:
mit dem chemischen Potential $ \mu $.
Konkret für eine reine Dampfphase (Index v für engl. vapor) ergibt sich:
Für ein System, das sowohl Dampf als auch ein flüssiges Tröpfchen (index l für engl. liquid) aus $ n $ Teilchen enthält, ergibt sich:
wobei $ \sigma $ die Oberflächenspannung eines Tröpfchens mit der Oberfläche $ A(n) $ ist.
Die Keimbildungsarbeit für ein Tröpfchen der Größe $ n $ in der Gasphase ist die Differenz $ \Delta G(n) $ der freien Gibbs-Energie $ G(n) $ eines Systems, das ein Tröpfchen der Größe $ n $ und Dampf enthält, und derjenigen des reinen Dampfsystems $ G_{\mathrm {v} }=G(n=0) $:
In dieser Gleichung ist $ \Delta \mu =\mu _{\mathrm {v} }-\mu _{\mathrm {l} } $ die Differenz der chemischen Potentiale des Dampfes und der Flüssigkeit.
Die klassische Keimbildungstheorie macht eine ganze Reihe vereinfachender Annahmen:
Mit Hilfe dieser Annahmen und der Gibbs-Duhem-Gleichung lässt sich die Differenz der chemischen Potentiale berechnen:
mit
Auch die Oberfläche lässt sich berechnen:
mit
Damit ergibt sich für die Keimbildungsarbeit
Der erste Term, auch Volumenterm genannt, ist proportional zu $ n $. Er stellt den Gewinn (daher negatives Vorzeichen) an Energie dar, der beim Übergang eines Moleküls aus der metastabilen Dampfphase in die stabile flüssige Phase auftritt.
Der zweite Term ist die Arbeit, die aufgebracht werden muss (daher positives Vorzeichen), um die Oberfläche eines solchen flüssigen Tröpfchens zu formen. Er ist proportional zu $ n^{2/3} $.
Bei $ S>1 $ – nur für diesen Fall kann Keimbildung einsetzen – dominiert der Oberflächenterm für kleine Teilchenzahlen bzw. Tröpfchengrößen. Ab einer kritischen Tröpfchengröße $ n^{*} $ gewinnt der Volumenterm Oberhand. Das Maximum $ \Delta G^{*} $ ist die Keimbildungsarbeit, die aufgebracht werden muss, um ein Tröpfchen der kritischen Größe zu bilden. Dies ergibt das gezeigte Bild einer Barriere in der freien Energie $ \Delta G(n) $.
Die kritische Größe und die kritische Keimbildungsarbeit sind die bestimmenden Größen der Keimbildung:
Damit ist verständlich, warum eine Substanz für längere Zeit metastabil gehalten werden kann: Obwohl die neue Phase (in unserem Beispiel die flüssige) die thermodynamisch stabile Phase ist, muss der Prozess zunächst einige energetisch ungünstige Schritte durchlaufen, um die Barriere zu erklimmen.
Die Barriere und die kritische Keimgröße nach der klassischen Keimbildungstheorie sind:
und
Um nun eine Keimbildungsrate $ J $ zu berechnen, also die Anzahl der pro Volumen und Zeit gebildeten Keime, muss auch die Kinetik der Keimbildung betrachtet werden. Die stationäre Keimbildungsrate wird üblicherweise in Form eines Arrhenius-Ansatzes berechnet:
Der Vorfaktor $ K $ wird üblicherweise der kinetische Vorfaktor genannt, auf ihn wird hier jedoch nicht näher eingegangen. Üblicherweise hat die Höhe $ \Delta G^{*} $ der Barriere aufgrund der exponentiellen Abhängigkeit einen wesentlich größeren und entscheidenden Einfluss.
Erfolgt die Nukleation im freien Raum, also durch ein statisches Zusammentreffen gleicher Teilchen, so spricht man von einer homogenen Keimbildung.
Hierzu ist es notwendig, dass sich im Falle der Kondensation ausreichend viele und langsame Teilchen ohne weitere Hilfe zu größeren Strukturen zusammenfinden. Langsame Teilchen können durch das gleichzeitige Zusammentreffen von mehr als zwei Teilchen (Dreierstoß) entstehen. Hierbei nimmt ein Teilchen einen Großteil der kinetischen Energie auf und hinterlässt zwei langsame Teilchen. Die Übersättigung ist dabei ungefähr proportional zur Wahrscheinlichkeit eines derartigen Dreierstoßes, der zur Nukleation führt. Abhängig von dem betrachteten System können daher thermodynamisch metastabile Systeme sehr lange in diesem Zustand verharren.
Im Gegensatz zur homogenen Keimbildung benötigt man bei der heterogenen Keimbildung nur sehr geringe Übersättigungen von oft unter einem Prozent. Diese Form der Kondensation erfolgt im Fall der Kondensation an bereits existierenden Oberflächen (heterogen: an andersartigen Teilchen), also im Regelfall an festen Partikeln, die in der Gasphase schweben, den Kondensationskernen bzw. Aerosolteilchen. Diese fungieren in Bezug auf das jeweilige Gas als eine Art Teilchenfänger, wobei im Wesentlichen der Radius und die chemischen Eigenschaften des Partikels bestimmen, wie gut die Gasteilchen an ihm haften. Analog gilt dies auch für Oberflächen nicht partikulärer Körper, wobei man dann von einem Beschlag spricht. In jedem Falle wirken heterogene Teilchen oder Oberflächen als ein Katalysator für die Keimbildung, indem sie die Keimbildungsbarriere deutlich verringern.