Ein Spinor ist in der Mathematik, und dort speziell in der Differentialgeometrie, ein Vektor in einer kleinsten Darstellung $ (\rho ,V) $ einer Spin-Gruppe. Die Spin-Gruppe ist isomorph zu einer Teilmenge einer Clifford-Algebra. Jede Clifford-Algebra ist isomorph zu einer Teil-Algebra einer reellen, komplexen oder quaternionischen Matrix-Algebra. Diese hat eine kanonische Darstellung durch Spaltenvektoren, die Spinoren.
Ein Spinor ist in der Physik meist ein Vektor einer 2-dimensionalen komplexen Darstellung der Spin-Gruppe $ \operatorname {Spin} (1,3) $, die zur Gruppe der Lorentz-Transformationen $ \operatorname {SO} (1,3) $ des Minkowski-Raums gehört. Wichtig ist hier vor allem das Drehverhalten.
Élie Cartan klassifizierte 1913[1] die irreduziblen komplexen Darstellungen einfacher Liegruppen.[2] Er fand neben den bekannten Tensordarstellungen auch eine neue zweiwertige Darstellung in Form der Spinoren (und sagte vorher, dass diese die anderen Darstellungen aufbauen könnten), speziell für lineare Darstellungen der Drehgruppen. Später erschien sein Lehrbuch über Spinoren[3]. Ihre Bedeutung insbesondere in der Physik wurde aber erst nach Entdeckung der Diracgleichung durch Paul Dirac 1928 erkannt (sie ermöglichten es ihm, eine Gleichung 1. Ordnung, die Diracgleichung, als Linearisierung einer Gleichung 2. Ordnung, der Klein-Gordon-Gleichung, zu gewinnen). Paul Ehrenfest wunderte sich, warum die Darstellung bei Dirac (mit der relativistisch kovarianten Diracgleichung) vierdimensional war, in der zuvor für den Spin im Rahmen der nichtrelativistischen Quantenmechanik aufgestellten Pauli-Gleichung von Wolfgang Pauli, in der er auch seine Pauli-Matrizen einführte, dagegen zweidimensional. Ehrenfest prägte für die neuartigen Größen 1928 den Namen Spinor[4] und beauftragte Bartel Leendert van der Waerden, diese mathematisch zu untersuchen, eine Untersuchung, die van der Waerden 1929 veröffentlichte.[5]
Dirac arbeitete bei seiner Einführung der Spinoren weitgehend unabhängig, nach seinen eigenen Worten auch unabhängig von Pauli in der Verwendung der Pauli-Matrizen. Pauli selbst wurde 1927 in der mathematischen Interpretation seiner Gleichung wesentlich von Pascual Jordan unterstützt[6] (der ihn auf den Zusammenhang mit Quaternionen hinwies).
Die Arbeiten von Dirac waren im Rahmen der Lorentzgruppe, den Zusammenhang mit Spinoren im euklidischen Raum stellte Cartan in seinem Buch 1938 her und Richard Brauer und Hermann Weyl in einem Aufsatz 1935 (unter Verwendung von Clifford-Algebren).[7] Die algebraische Theorie der Spinoren im Rahmen von Clifford-Algebren setzte Claude Chevalley in seinem Lehrbuch 1954 fort.[8]
Von Bedeutung in der Differentialgeometrie wurden sie vor allem durch das Atiyah-Singer-Indextheorem Anfang der 1960er Jahre.[9]
Die Spin-Gruppe $ \operatorname {Spin} (1,3) $ ist eine Teilmenge des geraden Teils $ C\ell ^{0}(1,3) $ der Clifford-Algebra $ C\ell (1,3) $. Die gesamte Algebra – als $ \mathbb {R} $-Vektorraum hat sie 16 Dimensionen – wird von den vier kanonischen Basisvektoren $ \mathbf {e} _{0} $, $ \mathbf {e} _{1} $, $ \mathbf {e} _{2} $, $ \mathbf {e} _{3} $ des 4-dimensionalen Minkowski-Raums $ \mathrm {M} ^{4} $ mit quadratischer Form (in Koordinaten dieser Basis) $ Q(x)=(x^{0})^{2}-(x^{1})^{2}-(x^{2})^{2}-(x^{3})^{2} $ erzeugt. Dementsprechend antikommutieren die Produkte verschiedener Basisvektoren; für ihre Quadrate gilt $ v^{2}=-Q(v) $, also $ (\mathbf {e} _{0})^{2}=-1 $, $ (\mathbf {e} _{1})^{2}=(\mathbf {e} _{2})^{2}=(\mathbf {e} _{3})^{2}=1 $.
Die (als $ \mathbb {R} $-Vektorraum 8-dimensionale) Unteralgebra $ C\ell ^{0}(1,3) $ der geraden Elemente wird erzeugt von zweifachen Produkten, die $ \mathbf {e} _{0} $ enthalten: $ \mathbf {f} _{1}:=\mathbf {e} _{0}\mathbf {e} _{1} $, $ \mathbf {f} _{2}:=\mathbf {e} _{0}\mathbf {e} _{2} $, $ \mathbf {f} _{3}:=\mathbf {e} _{0}\mathbf {e} _{3} $. Diese antikommutieren ebenfalls; ihre Quadrate haben den Wert 1.
Eine Basis von $ C\ell ^{0}(1,3) $ besteht beispielsweise aus dem Einselement, den $ \mathbf {f} _{k} $ und den nachfolgend beschriebenen vier Elementen $ \mathbf {g} _{k} $ und $ \omega $:
Die fehlenden zweifachen Produkte (d. h. die, die $ \mathbf {e} _{0} $ nicht enthalten) bilden eine „doppelt gerade“ Unteralgebra, die von geraden Produkten der $ \mathbf {f} _{k} $ erzeugt wird:
Die Quadrate der $ \mathbf {g} _{k} $ haben der Wert -1, und jedes der $ \mathbf {g} _{k} $ ist (eventuell bis aufs Vorzeichen) das Produkt der beiden anderen, also $ \mathbf {g} _{1}\mathbf {g} _{2}=\mathbf {g} _{3} $ usw. Die von den $ \mathbf {g} _{k} $ erzeugte Unteralgebra ist isomorph zur Algebra der Quaternionen. Mit Rücksicht auf die Pauli-Matrizen identifizieren wir $ \mathbf {g} _{1}=\mathrm {j} $, $ \mathbf {g} _{2}=\mathrm {k} $, $ \mathbf {g} _{3}=\mathrm {i} $; Genaueres weiter unten.
Unter den Basisvektoren der geraden Unteralgebra fehlt noch das Volumenelement
Dieses kommutiert mit der gesamten geraden Unteralgebra, es gilt $ \omega ^{2}=-1 $.
Es ist leicht zu sehen, dass $ (\omega ,\mathbf {g} _{1},\mathbf {g} _{2}) $ die gerade Unteralgebra erzeugen und dass der ungerade Teil der Algebra als $ C\ell ^{1}(1,3)=\mathbf {e} _{0}C\ell ^{0}(1,3) $ zu erhalten ist. Insgesamt gilt:
Dies liefert den Isomorphismus $ \varphi $
der eingeschränkt einen Isomorphismus
ergibt.
Es sei im Folgenden immer $ \mathbb {C} =\mathbb {R} [i] $, wobei $ i $ eine imaginäre Einheit der Quaternionen ist. Dann kann der Isomorphismus wie folgt definiert werden:
Als Folge daraus ergeben sich mit $ \mathbf {f} _{k}=\omega \mathbf {g} _{k} $ und $ \mathbf {e} _{k}=-\mathbf {e} _{0}\mathbf {f} _{k} $
Eigenspinoren stellen in der Quantenmechanik die Basisvektoren dar, die den Spin-Zustand eines Teilchens beschreiben. Für ein einzelnes Spin-1/2-Teilchen können sie als die Eigenvektoren der Pauli-Matrizen betrachtet werden. Sie bilden ein vollständiges Orthonormalsystem.
Es gibt einen Isomorphismus $ \rho \colon \mathbb {H} \otimes _{\mathbb {R} }\mathbb {H} \to {\mbox{Hom}}_{\mathbb {R} }(\mathbb {H} ,\mathbb {H} ) $, der einem Tensorprodukt $ a\otimes b $ die Abbildung $ x\mapsto \rho (a\otimes b)(x):=bx{\bar {a}} $ zuordnet. Damit ist $ \rho _{M}:=\rho \circ \varphi $ eine quaternionisch eindimensionale oder reell vierdimensionale Darstellung der gesamten Clifford-Algebra. Als letzteres hat sie den Namen Majorana-Spinor-Darstellung, nach Ettore Majorana.
Wir definieren eine bijektive Abbildung $ S\colon \mathbb {C} ^{2}\to \mathbb {H} $ als $ S(z^{1},z^{2}):=\mathrm {k} \,{\bar {z}}^{1}+{\bar {z}}^{2} $. Diese Abbildung ist reell linear und komplex rechts antilinear, d. h. $ S(wz^{1},wz^{2}):=S(z^{1},z^{2}){\bar {w}} $. Sei $ \theta :=S^{-1} $ die Koordinatenabbildung. Damit definieren wir
d. h. einem Element $ \varphi (c)=w\otimes q $ aus $ \mathbb {C} \otimes _{\mathbb {R} }\mathbb {H} $ wird die Abbildung, die durch
gegeben ist, zugeordnet. Dabei ist z. B.
Die Matrix dieser Abbildung ist die erste Pauli-Matrix $ \sigma _{1} $, analog gilt $ \mathbf {f} _{2}\mapsto \sigma _{2} $ und $ \mathbf {f} _{3}\mapsto \sigma _{3} $.
Somit ist $ \rho _{W} $ eine komplex zweidimensionale Darstellung der geraden Unteralgebra und damit auch der $ \operatorname {Spin} (1,3) $-Gruppe. Diese Darstellung von $ C\ell ^{0}(1,3) $ heißt Weyl-Spinor-Darstellung, benannt nach Hermann Weyl (siehe auch: Pauli-Matrizen).
Zu dieser gibt es eine konjugierte Darstellung $ {\bar {\rho }}_{W}(c)(z):=({\bar {\theta }}\circ \rho _{M}(x)\circ {\bar {S}})(x) $, wobei $ {\bar {S}}(z_{1},z_{2})=\mathrm {j} S(z_{1},z_{2})={\bar {z}}^{1}\mathrm {j} -{\bar {z}}^{2} $
Eine treue Darstellung ist eine Einbettung der Algebra in eine Matrixgruppe, oder generell in die Endomorphismengruppe eines Vektorraums. Dabei sollen Elemente der Spin-Gruppe auf orthogonale oder unitäre Matrizen abgebildet werden.
Dazu folgendes Lemma: Sind $ A $, $ B $ selbstadjungierte unitäre Abbildungen auf $ V $ mit $ A^{2}=B^{2}=I $ und $ AB=-BA $, so zerfällt $ V $ in isomorphe, zueinander orthogonale Unterräume $ V_{+}:=\operatorname {ker} (I-A) $ und $ V_{-}:=\operatorname {ker} (I+A)=BV_{+} $. Das Tripel $ (V,A,B) $ lässt sich isomorph abbilden auf
$ I_{+} $ ist die Identität auf $ V_{+} $. Das auftretende Tensorprodukt kann hier auch als das Kronecker-Produkt von Matrizen aufgefasst werden.
Eine Weyl-Spinor-Darstellung, benannt nach Hermann Weyl, ist eine kleinste komplexe Darstellung von $ \operatorname {Spin} (1,3) $. Diese ist gleichzeitig auch die kleinste komplexe Darstellung der geraden Unteralgebra $ C\ell ^{0}(1,3) $.
Angenommen, wir hätten eine komplexe Darstellung $ (\rho ,V) $ von $ C\ell ^{0}(1,3) $ in einen hermiteschen Vektorraum $ V $ vorliegen. Dabei sind die Bilder $ \rho (\mathbf {f} _{k}) $ (der Kürze wegen lassen wir im weiteren das $ \rho $ weg) unitäre, selbstadjungierte Abbildungen von $ V $ in sich.
$ A:=\mathbf {f} _{3} $ und $ B:=\mathbf {f} _{1} $ erfüllen die Voraussetzungen des Lemmas, wir können also zu einer isomorphen Darstellung
übergehen.
Um die Gestalt von $ \mathbf {f} _{2} $ einzuschränken, betrachten wir das Produkt $ \mathbf {f} _{1}\mathbf {f} _{2} $ und stellen fest, dass aufgrund der Vertauschungsregeln
sich folgende Gestalt zwingend ergibt
Da der Vektorraum $ V_{+} $ komplex ist, können wir ihn in zueinander orthogonale Unterräume $ V_{++} $ und $ V_{+-} $ aufspalten, auf welchen $ \mathbf {g} _{12} $ wie $ \mathrm {i} $ oder $ \mathrm {-i} $ wirkt. Beide Unterräume ergeben separate Darstellungen, die jeweils minimalen sind zueinander komplex konjugiert, die Matrizen sind die schon genannten Pauli-Matrizen, denn wenn $ \mathbf {g} _{12}=\mathrm {i} $, so ist
Im minimalen Fall ist $ V_{++}=\mathbb {C} $, $ V_{+-}=\{0\} $ oder umgekehrt. Es gibt also zwei konjugierte Weyl-Spinor-Darstellungen.
Anwendung: siehe Weyl-Gleichung
In der Quantenelektrodynamik bzw. Atiyah-Singer-Indextheorie wird der Dirac-Operator definiert. Das „wie“ ist nicht wichtig, nur, dass eine Darstellung der gesamten Clifford-Algebra benötigt wird. Die Dirac-Spinor-Darstellung, nach Paul Dirac, ist bei Anwendung in 3+1 Raum-Zeit-Dimensionen die kleinste komplexe Darstellung von $ C\ell (1,3) $. Es werden aber auch höherdimensionale Dirac-Spinoren zum Beispiel in der Stringtheorie betrachtet.
Ist eine solche komplexe Darstellung gegeben, so können wir wie oben die Darstellung der geraden Unteralgebra analysieren. Um auch den ungeraden Teil zu bestimmen, betrachten wir das Bild von $ \mathbf {e} _{1} $. Es kommutiert mit $ \mathbf {f} _{3} $ und antikommutiert mit $ \mathbf {f} _{1} $. Wie oben stellen wir fest, dass
Man überzeugt sich, dass $ \mathbf {g} _{1} $ die Unterräume $ V_{++} $ und $ V_{+-} $ vertauscht, wir können also die Darstellung durch eine noch weiter faktorisierte ersetzen:
Die minimale Dirac-Spinor-Darstellung ist wieder die mit $ V_{++}=\mathbb {C} $ (und jede dazu isomorphe).
Dirac-Spinoren in 3+1 Dimensionen dienen im Rahmen der Quantenelektrodynamik zur mathematischen Beschreibung von Fermionen mit Spin 1/2. Zu diesen Dirac-Fermionen gehören im Standardmodell der Teilchenphysik sämtliche fundamentalen Fermionen.
Die Majorana-Spinor-Darstellung, nach Ettore Majorana, sowohl der Spin-Gruppe als auch der Clifford-Algebra ist die kleinste reelle Darstellung von $ C\ell (1,3) $. Wir können die Analyse von oben übernehmen bis zu der Stelle, an welcher $ \mathbf {g} _{1} $ und $ \mathbf {g} _{12} $ auf $ V_{+} $ definiert sind. Hier können wir nun $ V_{+} $ nach $ A=\mathbf {g} _{1} $ zerlegen in $ V_{++}:=\operatorname {ker} (I-A) $ und $ V_{+-}:=\operatorname {ker} (I+A) $, $ B=\mathbf {g} _{12} $ vertauscht beide Unterräume, allerdings ist $ B^{2}=-I $, somit
Nach Ausmultiplizieren erhalten wir für $ V_{++}=\mathbb {R} $
Sie dienen in der Elementarteilchenphysik zur Beschreibung von Majorana-Fermionen, die aber bisher noch nicht beobachtet wurden.
Aus Obigem ist die für die Physik vielleicht wesentlichste Eigenschaft der Spinoren nicht leicht zu erkennen bzw. zu folgern:
Ganz- oder halbzahlige Werte von $ s $ sind die einzigen Möglichkeiten für die Ausprägung des Spins.
In der Mathematik, speziell in der Differentialgeometrie, wird unter einem Spinor ein (meist glatter) Schnitt des Spinorbündels verstanden. Das Spinorbündel ist ein Vektorbündel, das wie folgt entsteht: Ausgehend von einer orientierten riemannschen Mannigfaltigkeit (M,g) bildet man Bündel P der ON-Repere. Dieses besteht punktweise aus allen orientierten Orthonormalbasen:
Dies ist ein Hauptfaserbündel mit Strukturgruppe $ SO_{n} $. Eine Spin-Struktur ist dann ein Paar (Q,f) aus einem Hauptfaserbündel Q mit Strukturgruppe Spinn und einer Abbildung $ f\colon Q\rightarrow P $, die folgende Eigenschaften erfüllt:
Eine Spin-Struktur existiert nicht zu jeder Mannigfaltigkeit, existiert eine, so nennt man die Mannigfaltigkeit spin. Die Existenz einer Spin-Struktur ist äquivalent zum Verschwinden der zweiten Stiefel-Whitney-Klasse.
Gegeben eine Spin-Struktur (Q,f) konstruiert man das (komplexe) Spinorbündel wie folgt: Man nutzt die (bei Einschränkung auf die Spin-Gruppe eindeutige) irreduzible Darstellung der (komplexen) Clifford-Algebra $ \kappa \colon Cl_{n}\rightarrow \Delta _{n}=\mathbb {C} ^{[n/2]^{2}} $ (vergleiche hier) und bildet das Spinorbündel als assoziiertes Vektorbündel
wobei die Äquivalenzrelation durch $ (p,v)=(p\cdot g,\kappa (g^{-1})(v))\,\forall g\in \operatorname {Spin} _{n} $ gegeben ist.
Analoge Konstruktionen lassen sich auch durchführen, wenn man die riemannsche Metrik durch eine pseudoriemannsche ersetzt. Die oben beschriebenen Spinoren sind Spinoren im hier beschriebenen Sinne über der Mannigfaltigkeit $ \mathbb {R} ^{4} $ mit der pseudo-euklidischen Metrik $ \langle (v_{1},\dots ,v_{4}),(w_{1},\dots ,w_{4})\rangle =-v_{1}w_{1}+v_{2}w_{2}+v_{4}w_{3}+v_{4}w_{4} $. Das Spinorbündel ist in diesem Fall ein triviales Vektorbündel.