Halbgefrorene Spinflüssigkeit
Physik-News vom 11.06.2018
Physiker der Universität Augsburg und des Paul Scherrer Instituts entdecken Koexistenz flüssiger und gefrorener Spins in magnetischen Verbindung unter hohem Druck.
Die elementaren Bausteine magnetischer Materialien, sogenannte Spins, können unterschiedliche Zustände annehmen, die in Analogie zu Aggregatszuständen oft als fest (kristallin) oder gasförmig (ungeordnet) bezeichnet werden. Zwischenzustände von Spins, die den Zwischenzuständen einer Flüssigkeit entsprechen würden, wären von besonderem Interesse, sind bislang jedoch kaum nachgewiesen. Forscher des Augsburger Lehrstuhls für Experimentalphysik VI/EKM berichten in "Physical Review Letters" vom erstmaligen experimentellen Nachweis eines gemischt flüssigen und gefrorenen Spinszustands, den sie unter hohem Druck in der Verbindung β-Li2IrO3 realisieren konnten.
Publikation:
M. Majumder, R.S. Manna, G. Simutis, J.C. Orain, T. Dey, F. Freund, A. Jesche, R. Khasanov, P.K. Biswas, E. Bykova, N. Dubrovinskaia, L.S. Dubrovinsky, R. Yadav, L. Hozoi, S. Nishimoto, A.A. Tsirlin, and P. Gegenwart
Breakdown of magnetic order in the pressurized Kitaev iridate β-Li2IrO3
Phys. Rev. Lett. 120, 237202 (2018)
DOI: /10.1103/PhysRevLett.120.237202
Durch Angabe des Aggregatszustands lassen sich Stoffe ganz allgemein als gasförmig, flüssig oder fest einordnen. Analoge Bezeichnungen werden auch verwandt, um das Verhalten der Elementarmagnete in Festkörpern, der so genannten „Spins“ zu beschreiben. Bei hohen Temperaturen ändern die Spins ständig ihre Ausrichtung und befinden sich in einem völlig ungeordneten, gasförmigen Zustand. Analog zum Kondensieren und anschließenden Erstarren bei Abkühlung von Gasen, können auch Spins bei tiefen Temperaturen in einen geordneten Zustand mit fester Ausrichtung einfrieren. Falls jedoch unterschiedliche Wechselwirkungen zwischen den Spins nicht gleichzeitig in einer festen Spinausrichtung befriedigt werden können – man spricht hier von „magnetischer Frustration“ – ist theoretisch vorhergesagt, dass sich eine bis hinab zu tiefsten Temperaturen stabile Spin-Flüssigkeit ausbildet. Dies ist ein Zustand, in dem die Spins zwar miteinander wechselwirken, aber keine feste Ordnung annehmen.
Wege zur Spinflüssigkeit
Spinflüssigkeiten sind sehr selten und schwierig zu erzeugen. Theoretisch wurden verschiedene Wege vorgeschlagen, bislang gibt es jedoch kaum praktische Umsetzungen. Im Jahr 2006 wurde vom mathematischen Physiker Alexei Kitaev ein vielbeachtetes Modell erdacht, welches eine neue Klasse von Spinflüssigkeiten mit interessanten Eigenschaften – auch im Hinblick auf neuartige Anwendungen in der Quanteninformationstechnologie – bietet. Zahlreiche experimentelle Gruppen versuchen seither eine „Kitaev-Spinflüssigkeit“ zu realisieren. Zwar gibt es mittlerweile eine Reihe von Verbindungen, welche die von Kitaev postulierte bindungsrichtungsabhängige magnetische Wechselwirkung aufweisen, der Kitaev-Spinflüssigkeitszustand konnte jedoch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Dies liegt daran, dass in der Realität zusätzliche, im Modell nicht enthaltene Wechselwirkungen einen festen Spinzustand favorisieren.
Experimente unter Druck
Das Augsburger Team hat nun durch Anlegen von Druck einen wichtigen Durchbruch erzielt. „Druck kann die Atompositionen im Kristall und damit deren gegenseitige Wechselwirkungen gezielt ändern. Magnetische Wechselwirkungen sind besonders druckempfindlich, daher sind Druckexperimente an Kitaev-Materialien besonders spannend“, so Dr. Alexander Tsirlin, Nachwuchsgruppenleiter am Zentrum für Elektronische Korrelationen und Magnetismus des Augsburger Physik-Instituts.
Für die Druckexperimente wurde die Verbindung β-Li2IrO3 ausgewählt, die in Augsburg in Form hochreiner Einkristalle hergestellt werden kann. Frühere Untersuchungen zeigten bereits das Vorhandensein der Kitaev-Wechselwirkung in diesem Material. Allerdings tritt bei Normaldruck keine Spinflüssigkeit, sondern eine komplizierte magnetische Ordnung auf. Das Team unter Leitung von Dr. Tsirlin und Prof. Dr. Philipp Gegenwart führte nun Druckexperimente bis zum 20.000-fachen des Atmosphärendrucks durch, was einer enormen Last von 20 Tonnen pro Quadratzentimeter entspricht.
Unterschiedliche Experimente wurden durchgeführt. Eine sehr kompakte Druckzelle mit weniger als 8 mm Außendurchmesser wurde für hochempfindliche Messungen der Magnetisierung bis zu sehr tiefen Temperaturen in Augsburg verwandt. Weitere Experimente wurden am Paul Scherrer Institut in der Schweiz durchgeführt. Bei diesen Experimenten wurde das Probenmaterial innerhalb einer Druckzelle mit Myonen, also positiv geladenen Elementarteilchen, welche ein Spinmoment tragen, bombardiert. Die Polarisation des Myonenspins ist eine sehr empfindliche Sonde lokaler Magnetfelder im Probenmaterial. Die Experimente mit Myonen am Paul Scherrer Institut bestätigten die bereits in Augsburg beobachtete Unterdrückung der magnetischen Ordnung in β-Li2IrO3 unter hohem Druck, die auf die Bildung einer Spinflüssigkeit hindeuten könnte. Die detaillierte Auswertung ergab jedoch zur Überraschung des Forscherteams, dass eine Koexistenz, vermutlich auf Nanometer-Skala, von flüssigen und gefrorenen Bereichen vorliegt.
Vereisung oder schwimmende Eisberge aus Spins?
Das Ausfrieren einer Spinflüssigkeit kann durch Unvollkommenheiten im Material, also durch Gitterdefekte verursacht werden. Die Arbeitsgruppe hat daher auch äußerst akkurat die Kristallstruktur vor, während und nach den Druckexperimenten untersucht. Dies ergab jedoch keine Hinweise auf Kristall-Defektbildung. „ Die Koexistenz flüssiger und gefrorener Spinbereiche scheint deshalb eine allgemeine Eigenschaft von β-Li2IrO3 unter hohem Druck zu sein“, fasst Gegenwart die Experimente zusammen. Unverstanden sei bislang, ob die ausgefrorenen Spins sich in Klumpen – analog zu Eisbergen im Ozean – formieren, oder ob sie flüssige Bereiche umringen, analog zur dünnen Eisfläche eines gefrierenden Sees. „In jedem Fall ist die unter Druck beobachtete Phase unterschiedlich zur vorhergesagten Kitaev-Spinflüssigkeit. Daher muss die bestehende Theorie erweitert werden“, so Tsirlin.
Diese Newsmeldung wurde via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.