Materiestraße im All lässt Galaxienhaufen wachsen
Physik-News vom 28.06.2021
Vor einem halben Jahr meldeten Astronomen der Universität Bonn die Entdeckung eines extrem langen intergalaktischen Gasfadens mit dem Röntgenteleskop eROSITA. In einer neuen Studie haben sie sich nun auf eine interessante Struktur in dem Faden konzentriert, den nördlichen Klumpen. Ihre neuen Beobachtungsdaten belegen, dass es sich dabei um einen Galaxienhaufen mit einem schwarzen Loch im Zentrum handelt. Der Gasfaden ist demnach eine galaktische Materiestraße: Der nördliche Klumpen bewegt sich auf ihr auf zwei weitere riesige Galaxienhaufen zu und wird irgendwann mit ihnen verschmelzen.
Das Universum ähnelt einem Schweizer Käse - allerdings einem mit riesigen Löchern: Große Bereiche im All sind absolut leer. Dazwischen tummeln sich auf vergleichsweise engem Raum Tausende von Galaxien. Diese Cluster sind durch Straßen aus dünnem Materiegas miteinander verbunden, wie durch die hauchdünnen Fäden eines Spinnennetzes.
So sagt es zumindest das Standardmodell der Kosmologie voraus. Ob es sich tatsächlich so verhält, war bis vor kurzem kaum zu belegen. Denn die Materie in den Gasfäden ist so stark verdünnt, dass sie sich dem Blick selbst der empfindlichsten Messinstrumente entzog: Die Fäden enthalten pro Kubikmeter gerade einmal zehn Teilchen - das ist sehr viel weniger, als in dem besten Vakuum vorhanden sind, das Menschen herstellen können.
Publikation:
Angie Veronica et al.
The eROSITA View of the Abell 3391/95 Field: The Northern Clump. The Largest Infalling Structure in the Longest Known Gas Filament Observed with eROSITA, XMM-Newton, Chandra
Astronomy & Astrophysics
Entsprechend viel Aufsehen erregte im letzten Winter eine Studie unter Federführung der Universität Bonn. Die Forschenden hatten einen intergalaktischen Gasfaden von mindestens 50 Millionen Lichtjahren Länge entdeckt, der von zwei riesigen Galaxienhaufen ausgeht. „In diesem Faden gibt es einen weiteren Galaxienhaufen, den nördlichen Klumpen“, erklärt Prof. Dr. Thomas Reiprich vom Argelander-Institut für Astronomie der Universität Bonn. „In der jetzt erschienenen Arbeit haben wir ihn genauer unter die Lupe genommen.“
Bugwelle und Materieschweif
Die Wissenschaftler kombinierten dazu Aufnahmen verschiedener Quellen miteinander: der Satelliten SRG/eROSITA, XMM-Newton und Chandra sowie der EMU-Durchmusterung mit dem ASKAP-Radioteleskop und optische DECam Daten. Auf diese Weise entstanden Bilder mit nie gesehenem Detailreichtum. „So können wir im Mittelpunkt des nördlichen Klumpen eine große Galaxie ausmachen“, sagt Reiprichs Mitarbeiterin und Erstautorin der Studie Angie Veronica. „In ihrem Zentrum wiederum befindet sich ein supermassereiches schwarzes Loch.“ Von ihm gehen zwei so genannte Materiejets aus, in denen sich die Teilchen mit annähernd Lichtgeschwindigkeit vom schwarzen Loch entfernen. Dabei entsteht Synchroton-Strahlung, die sich in den Radioteleskop-Aufnahmen sichtbar machen lässt.
Darüber hinaus enthält der nördliche Klumpen sehr heißes Materiegas. „Aufgrund seiner hohen Temperatur von 20 Millionen Grad emittiert es Röntgenstrahlung, die wir in den eROSITA-Bildern sehen und mit dem XMM-Newton Satelliten nun sehr genau vermessen konnten“, sagt Veronica. Insgesamt zeigt die Kombination der Datenquellen, dass der nördliche Klumpen sich wahrscheinlich mit hoher Geschwindigkeit bewegt. Die Materiejets, die vom schwarzen Loch ausgehen, weisen wie die Zöpfe eines rennenden Mädchens nach hinten; vor dem Klumpen scheint das Gas zudem eine Art Bugwelle zu bilden. „Zudem sehen wir hinter ihm einen Materieschweif“, erklärt Reiprich. „Wir interpretieren diese Beobachtung momentan so, dass der nördliche Klumpen bei seiner Reise Materie verliert. Allerdings könnte es auch so sein, dass noch kleinere Materieklumpen in der Straße auf den nördlichen Klumpen zufallen.“
Insgesamt bestätigen die Beobachtungen die aus Theorien abgeleitete These, dass es sich bei dem Gasfaden um eine intergalaktische Materiestraße handelt. Der nördliche Klumpen bewegt sich auf dieser Straße mit hoher Geschwindigkeit auf zwei weitere, sehr viel größere Galaxienhaufen namens Abell 3391 und Abell 3395 zu. „Er fällt sozusagen auf diese Haufen und wird sie weiter vergrößern - ganz nach dem Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben“, erklärt Reiprich, der auch Mitglied im transdisziplinären Forschungsbereich „Bausteine der Materie“ an der Universität Bonn ist. „Was wir sehen, ist eine Momentaufnahme dieses Falls.“
Beobachtungen in Übereinstimmung mit theoretischen Vorhersagen
Die Beobachtungen stimmen erstaunlich gut mit dem Ergebnis der Magneticum-Computersimulationen überein, die von Forschern des eROSITA-Konsortiums entwickelt wurden. Sie lassen sich daher auch als Argument dafür werten, dass die heute gültigen Annahmen über die Entstehung und Entwicklung des Universums korrekt sind. Dazu zählt auch die These, dass ein großer Teil der Materie für unsere Messinstrumente unsichtbar ist. 85 Prozent unseres Universums sollen aus dieser „dunklen Materie“ bestehen. Im Standardmodell der Kosmologie spielt sie unter anderem eine wichtige Rolle als Kondensationskeim, der nach dem Urknall die Verdichtung der gasförmigen Materie zu Galaxien bewirkte.
Beteiligte Institutionen und Förderung
An der Studie waren über 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Italien, den USA und Australien beteiligt.
eROSITA wurde mit Mitteln der Max-Planck-Gesellschaft und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) entwickelt. Die aktuelle Studie wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.