Mit Künstlicher Intelligenz warme dichte Materie verstehen
Physik-News vom 28.01.2021
Die Erforschung warmer dichter Materie liefert Einblicke in das Innere von Riesenplaneten, braunen Zwergen und Neutronensternen. Dieser Materiezustand, der Eigenschaften sowohl von Festkörpern als auch von Plasmen aufweist, kommt jedoch nicht natürlich auf der Erde vor. Mit großen Röntgenstrahlexperimenten kann er in kleinem Maßstab und über kurze Zeiträume auch im Labor erzeugt werden. Zur Auswertung dieser Experimente sind Modelle von zentraler Bedeutung – ohne Formeln, Algorithmen und Simulationen ist deren Interpretation nicht möglich. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von CASUS am HZDR haben nun eine Methode entwickelt, mit der sich solche Experimente effektiver auswerten lassen als bisher.
Der exotische Zustand der warmen dichten Materie stellt eine außergewöhnliche Herausforderung für Forscherinnen und Forscher dar, die ihn beschreiben wollen. Denn zum einen sind die vorherrschenden Dichten für die Anwendung von gängigen Modellen der Plasmaphysik zu hoch. Zum anderen greifen auch die Modelle für kondensierte Materie nicht mehr, da die beteiligten Energien bereits zu groß dafür sind. Der Modellierung solcher komplexen Systeme hat sich ein Team um Dr. Tobias Dornheim, Dr. Attila Cangi, Kushal Ramakrishna und Maximilian Böhme vom noch jungen Zentrum für Systemforschung CASUS in Görlitz verschrieben. Erste Ergebnisse hat die Fachzeitschrift Physical Review Letters bereits vor kurzem veröffentlicht. Zusammen mit Dr. Jan Vorberger vom Institut für Strahlenphysik am HZDR und Prof. Shigenori Tanaka von der Kobe University in Japan haben sie eine neue Methode erarbeitet, mit der sich die Eigenschaften von warmer dichter Materie effizienter und schneller berechnen lassen.
Publikation:
T. Dornheim, A. Cangi, K. Ramakrishna, M. Böhme, S. Tanaka, and J. Vorberger
Effective static approximation: A fast and reliable tool for warm-dense matter theory
Physical Review Letters, 2020
DOI: 10.1103/PhysRevLett.125.235001
„Mit unserem Algorithmus lässt sich die sogenannte Lokalfeldkorrektur sehr genau berechnen. Sie beschreibt, wie die Elektronen in warmer dichter Materie miteinander wechselwirken und ermöglicht damit einen Zugang zu deren Eigenschaften. Diese Berechnung kann bei zukünftigen Röntgenstreuexperimenten zur Modellierung und Interpretation der Ergebnisse eingesetzt werden, aber auch als Grundlage für andere Simulationsverfahren. Das heißt, unsere Methode hilft dabei, die Eigenschaften warmer dichter Materie, wie Temperatur und Dichte, aber auch ihre Leitfähigkeit für elektrischen Strom oder Wärme und viele weitere Charakteristika zu bestimmen“, erläutert Dornheim.
Großrechner und neuronale Netze
„Die Motivation hinter der von uns entwickelten Methode ist, dass wir und viele Kollegen gerne wissen würden, wie sich Elektronen exakt unter dem Einfluss kleiner Störungen verhalten, etwa durch die Einwirkung eines Röntgenstrahls. Dazu kann man eine Formel herleiten, die aber so komplex ist, dass wir sie nicht mehr mit Stift und Zettel lösen können. Bisher hat man sich daher einer bestimmten Vereinfachung bedient, die aber bekanntermaßen einige wichtige physikalische Effekte nicht abbildet. Wir haben nun eine Korrektur eingeführt, die genau diesen Makel behebt“, fährt Dornheim fort.
Für die Umsetzung wurden rechenintensive Simulationen über Millionen Prozessorstunden auf Großrechnern durchgeführt. Auf Grundlage dieser Daten und mit Hilfe analytischer Methoden aus der Statistik trainierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein neuronales Netzwerk, das die Wechselwirkung der Elektronen numerisch vorhersagen kann. Wie viel effizienter das neue Werkzeug ist, hängt von der jeweiligen Anwendung ab. „Generell können wir aber sagen, dass bisherige Verfahren bei hoher Genauigkeit tausende Prozessorstunden benötigen, wohingegen unsere Methode nur Sekunden beansprucht“, sagt Attila Cangi, der von den Sandia National Laboratories in den USA zu CASUS wechselte. „Somit kann man nun einen Laptop zur Simulation verwenden, wo zuvor ein Supercomputer notwendig war.“
Ausblick: Neuer Standardcode für die Experimentauswertung
Zwar ist der vorgestellte Code vorerst ausschließlich für die Elektronen in Metallen, zum Beispiel in Experimenten an Aluminium, anwendbar. Die Forscherinnen und Forscher arbeiten aber bereits an einem allgemein anwendbaren Code, der zukünftig bei verschiedensten Materialen unter sehr unterschiedlichen Bedingungen Ergebnisse liefern soll. „Wir wollen unsere Erkenntnisse in einen neuen Code einfließen lassen. Dieser soll quelloffen sein, anders als der bisherige Code, der durch seine Lizenzierung keine einfachen Anpassungen durch neue theoretische Kenntnisse zulässt“, erläutert CASUS-Doktorand Maximilian Böhme, der dafür mit dem britischen Plasmaphysiker Dave Chapman zusammenarbeitet.
Center for Advanced Systems Understanding (CASUS)
Das Center for Advanced Systems Understanding (CASUS) wurde 2019 in Görlitz gegründet und betreibt digitale interdisziplinäre Systemforschung in unterschiedlichen Bereichen wie Erdsystemforschung, Systembiologie und Materialforschung. Innovative Forschungsmethoden aus Mathematik, theoretischer Systemforschung, Simulation, Daten- und Computerwissenschaft werden eingesetzt mit dem Ziel, komplexe Systeme von bisher nie dagewesener Realitätstreue abzubilden und so zur Lösung drängender gesellschaftlicher Fragen beizutragen.
Kooperationspartner sind das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR), das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig (UFZ), das Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden (MPI-CBG), die Technische Universität Dresden (TUD) und die Universität Wrocław.
Das Zentrum wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Kultur und Tourismus gefördert.
www.casus.scienceEs gibt nur wenige Großlabore, an denen solche Röntgenexperimente zur Erforschung warmer dichter Materie möglich sind. Zu nennen sind hier der European XFEL bei Hamburg, aber auch die Linear Coherent Light Source (LCLS) am Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) an der Stanford University, die National Ignition Facility (NIF) am Lawrence Livermore National Laboratory, die Z Machine an den Sandia National Laboratories oder der SPring-8 Angstrom Compact free electron LAser (SACLA) in Japan. „Wir stehen mit diesen Laboren in Kontakt und erwarten, aktiv an der Modellierung der Experimente teilnehmen zu können“, verrät Tobias Dornheim. Erste Experimente an der Helmholtz International Beamline for Extreme Fields (HIBEF) am European XFEL sind bereits in Vorbereitung.
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.