Neue Messmethode hilft, Physik der Hochtemperatur-Supraleitung zu verstehen
Physik-News vom 07.05.2020
Von einer nachhaltigen Energieversorgung bis hin zu Quantencomputern: Hochtemperatur-Supraleiter könnten unsere heutige Technik revolutionieren. Trotz intensiver Forschung fehlt jedoch noch immer das grundlegende Verständnis, um die komplexen Materialien für die breite Anwendung weiterzuentwickeln. Die „Higgs-Spektroskopie“ könnte eine Wende bringen: Sie erlaubt, die Dynamik der gekoppelten Elektronen in Supraleitern nachzuweisen.
Supraleiter transportieren elektrischen Strom ohne Energieverlust. Ihr Einsatz würde unseren Energiebedarf dramatisch senken – wäre da nicht die kritische Temperatur. Erst unterhalb dieses Punktes schalten die Materialien quasi die Supraleitung ein. Alle bekannten Supraleiter müssen dafür aufwändig gekühlt werden. Das macht sie für den Alltag unbrauchbar. Fortschritte versprechen Hochtemperatur-Supraleiter wie Kuprate – innovative Materialien auf der Basis von Kupferoxid. Das Problem: Trotz langjähriger Bemühungen ist ihre genaue Funktionsweise weiterhin ungeklärt. Die Higgs-Spektroskopie soll das ändern.
Publikation:
H. Chu et al.
Phase-resolved Higgs response in superconducting cuprates
Nature Communications, 2020
DOI: 10.1038/s41467-020-15613-1
Higgs-Spektroskopie eröffnet neue Einblicke in Hochtemperatur-Supraleitung
„Wir haben mit der Higgs-Spektroskopie jetzt eine ganz neue Art von Lupe, mit der wir in die physikalischen Abläufe hineinsehen können“, berichtet Dr. Jan-Christoph Deinert. Der Forscher vom HZDR-Institut für Strahlenphysik arbeitet gemeinsam mit Kollegen des MPI-FKF, der Universitäten Stuttgart und Tokyo sowie weiterer internationaler Forschungseinrichtungen an der neuen Methode. Die Wissenschaftler wollen vor allem verstehen, wie Elektronen in Hochtemperatur-Supraleitern Kopplungen eingehen.
Für die Supraleitung verbinden sich Elektronen zu „Cooper-Paaren“. Mit diesem Trick können sie sich paarweise ohne weitere Wechselwirkung mit ihrer Umgebung durch das Material bewegen. Doch was verbindet zwei Elektronen, die sich aufgrund ihrer Ladung eigentlich abstoßen? Für konventionelle Supraleiter hat die Physik eine Erklärung: „Die Elektronen koppeln mit Hilfe von Kristallschwingungen“, erläutert Prof. Stefan Kaiser, einer der Hauptautoren der Studie, der am MPI-FKF und der Universität Stuttgart zur Dynamik in Supraleitern forscht. Ein Elektron verzerrt das Kristallgitter, das dann das zweite Elektron anzieht. Für die Kuprate ist der Mechanismus, der anstelle der Gitterschwingungen wirkt, bisher unklar. „Eine Hypothese ist die Kopplung durch fluktuierende Spins, also durch magnetische Wechselwirkung“, erläutert Kaiser. „Die wichtige Frage ist jedoch: Lässt sich deren Einfluss auf die Supraleitung und insbesondere auf die Eigenschaften der gekoppelten Cooper-Paare direkt messen?“
Hier kommen die sogenannten „Higgs-Schwingungen“ ins Spiel: In der Hochenergiephysik erklären sie, wieso Elementarteilchen eine Masse haben. Sie kommen jedoch auch in Supraleitern vor, in denen sie durch starke Laserpulse angeregt werden können. Dabei entsprechen sie Schwingungen des Ordnungsparameters – dem Maß dafür, wie weit sich ein Material bereits im supraleitenden Zustand befindet – wie hoch also praktisch die Dichte der Cooper-Paare ist. Soweit die Theorie. Ein erster experimenteller Nachweis gelang vor wenigen Jahren. Mithilfe eines ultrakurzen Lichtpulses regten Forscher der Universität Tokyo konventionelle Supraleiter zu Higgs-Schwingungen an – als würde man ein Pendel anstoßen. Für Hochtemperatur-Supraleiter genügt solch ein einmaliger Impuls jedoch nicht. Wechselwirkungen der supraleitenden und nicht-supraleitenden Elektronen und die komplizierte Symmetrie des Ordnungsparameters dämpfen das System zu stark.
Terahertz-Lichtquelle hält System in Schwingung
Mit der Higgs-Spektroskopie erzielte das Forscherkonsortium um MPI-FKF und HZDR nun den experimentellen Durchbruch für Hochtemperatur-Supraleiter. Der Trick: Sie nutzen einen multizyklischen, extrem starken Terahertzpuls, der optimal auf die Higgs-Schwingung abgestimmt ist und diese trotz Dämpfung aufrechterhalten kann – das gedachte Pendel wird kontinuierlich angetrieben. Mit der hochleistungsfähigen Terahertz-Lichtquelle TELBE am HZDR können die Forscher 100.000 dieser Pulse pro Sekunde durch die Proben schicken. „Die Intensität des Lichts im Terahertz-Bereich und die hohe Wiederholrate der Pulse machen unsere Quelle weltweit einzigartig“, erläutert Deinert. „Wir können die Higgs-Schwingungen jetzt gezielt antreiben und sehr präzise vermessen.“
Der Erfolg fußt auf der engen Zusammenarbeit von Theoretikern und Experimentatoren. Die Idee entstand am MPI-FKF. Umgesetzt wurde das Experiment vom TELBE-Team um Dr. Jan-Christoph Deinert und Dr. Sergey Kovalev am HZDR unter der damaligen Leitung von Prof. Michael Gensch, der mittlerweile am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie an der TU Berlin forscht: „Die Versuche haben insbesondere auch eine große generelle Bedeutung für die wissenschaftliche Anwendung von Großforschungsanlagen. Sie demonstrieren, dass eine komplexe Reihenuntersuchung mittels nichtlinearer Terahertz-Spektroskopie an einer komplizierten Probenserie, wie den Kupraten, an einer Hochleistungs-Terahertz-Quelle wie TELBE erfolgreich und effizient durchgeführt werden kann.“
Deswegen erwartet das Forscherteam auch in Zukunft eine große Nachfrage: „Die Higgs-Spektroskopie als methodischer Ansatz eröffnet völlig neue Potentiale“, erklärt der Erstautor der Studie und Postdoc am Max-Planck-UBC-UTokyo Center for Quantum Materials, Dr. Hao Chu. „Sie ist der Startpunkt zu einer Reihe von Versuchen, die neue Einblicke in Materialien liefern. Man kann jetzt sehr systematisch herangehen.“
Kurz vor der kritischen Temperatur: Wann setzt Supraleitung ein?
Über mehrere Messreihen belegten die Forscher zunächst für typische Vertreter der Kuprate, dass ihre Methode funktioniert. Unterhalb der kritischen Temperatur konnten sie nicht nur die Higgs-Schwingungen antreiben. Das Forscherteam wies außerdem nach, dass eine neue, bisher nicht beobachtete Anregung mit den Higgs-Schwingungen der Cooper-Paare interagiert. Ob es sich dabei um magnetische Wechselwirkungen handelt, wie in Fachkreisen heiß diskutiert wird, müssen weitere Experimente zeigen. Oberhalb der kritischen Temperatur sahen die Forscher Indizien, dass sich auch hier Cooper-Paare bilden können, ohne jedoch zusammen zu schwingen. Auch andere Messmethoden haben die Möglichkeit einer solch frühzeitigen Paarbildung bereits nahegelegt. Die Higgs-Spektroskopie könnte diese Hypothese untermauern. Sie könnte klären, wann und wie die Paare sich bilden, und was sie zum gemeinsamen Schwingen im Supraleiter bringt.
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.