Neue mögliche Erklärung für die Hubble-Spannung
Physik-News vom 06.12.2023
Das Weltall dehnt sich aus. Wie schnell es das tut, wird durch die sogenannte Hubble-Lemaitre-Konstante beschrieben. Doch gibt es einen Streit um die Frage, wie groß diese Konstante eigentlich ist: Unterschiedliche Messmethoden liefern widersprüchliche Werte. Diese sogenannte „Hubble-Spannung“ stellt die Kosmologen vor ein Rätsel.
Forscher der Universitäten Bonn und St. Andrews schlagen dafür nun eine neue Lösung vor: Unter Verwendung einer alternativen Gravitationstheorie lässt sich die Diskrepanz in den Messwerten problemlos erklären - die Hubble-Spannung verschwindet. Die Studie ist nun in den Monthly Notices of the Royal Astronomical Society (MNRAS) erschienen.
Publikation:
Sergij Mazurenko, Indranil Banik, Pavel Kroupa and Moritz Haslbauer
Simultaneous solution to the Hubble tension and observed bulk flow within 250 ℎ−1 Mpc
Monthly Notices of the Royal Astronomical Society (2023)
Die Ausdehnung des Universums sorgt dafür, dass sich die Galaxien voneinander entfernen. Die Geschwindigkeit, mit der sie das tun, ist proportional zu dem Abstand, den sie voneinander haben. Wenn etwa Galaxie A doppelt so weit von der Erde entfernt ist wie Galaxie B, wächst ihre Distanz von uns auch doppelt so schnell. Der US-Astronom Edwin Hubble war einer der ersten, der diesen Zusammenhang erkannte.
Um zu berechnen, wie schnell sich zwei Galaxien voneinander entfernen, muss man daher einerseits ihren Abstand kennen. Andererseits benötigt man dazu eine Konstante, mit der man diesen Abstand multiplizieren muss. Das ist die sogenannte Hubble-Lemaitre-Konstante, eine fundamentale Größe der Kosmologie. Um ihren Wert zu bestimmen, kann man zum Beispiel die sehr weit entfernten Gebiete des Universums betrachten. Wenn man das tut, kommt man auf eine Geschwindigkeit von knapp 244.000 Stundenkilometern pro Megaparsec Abstand (ein Megaparsec sind gut drei Millionen Lichtjahre).
244.000 Stundenkilometer pro Megaparsec - oder 264.000?
„Man kann sich aber auch Himmelskörper ansehen, die deutlich näher zu uns liegen - sogenannte Supernovae der Kategorie 1a, das ist eine bestimmte Art explodierender Sterne“, erklärt Prof. Dr. Pavel Kroupa vom Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik der Universität Bonn. Es ist möglich, den Abstand einer 1a-Supernova zur Erde sehr genau zu bestimmen. Zudem weiß man, dass leuchtende Objekte ihre Farbe ändern, wenn sie sich von uns wegbewegen - und zwar umso stärker, je schneller sie das tun. Es ist ähnlich wie bei einem Krankenwagen, dessen Martinshorn tiefer klingt, wenn er sich von uns entfernt.
Wenn man nun aus der Farbverschiebung der 1a-Supernovae ihre Geschwindigkeit berechnet und diese zu ihrer Distanz in Beziehung setzt, kommt man auf einen anderen Wert für die Hubble-Lemaitre Konstante - nämlich knapp 264.000 Stundenkilometer pro Megaparsec Abstand. „Das Universum scheint sich also in unserer Nähe - das heißt bis zu einer Entfernung von ungefähr drei Milliarden Lichtjahren - schneller auszudehnen als in seiner Gesamtheit“, sagt Kroupa. „Und das dürfte eigentlich nicht sein.“
Allerdings gibt es seit kurzem eine Beobachtung, die das erklären könnte. Demnach befindet sich die Erde in einer Region des Weltalls, in der es relativ wenig Materie gibt - vergleichbar etwa mit einer Luftblase in einem Kuchen. Um die Blase herum ist die Materiedichte höher. Von dieser umgebenden Materie gehen Gravitationskräfte aus, die die Galaxien in der Blase zum Rand des Hohlraums ziehen. „Daher entfernen sie sich schneller von uns, als eigentlich zu erwarten wäre“, erklärt Dr. Indranil Banik von der St. Andrews Universität. Die Abweichungen wären also schlicht durch eine lokale „Unterdichte“ zu erklären.
Tatsächlich hat eine andere Forschungsgruppe kürzlich die durchschnittliche Geschwindigkeit sehr vieler Galaxien gemessen, die 600 Millionen Lichtjahre von uns entfernt sind. „Dabei wurde festgestellt, dass sich diese Galaxien viermal so schnell von uns wegbewegen, wie es das Standardmodell der Kosmologie erlaubt“, erklärt Sergij Mazurenko aus Kroupas Arbeitsgruppe, der an der aktuellen Studie beteiligt war.
Blase im Teig des Universums
Denn das Standardmodell sieht derartige Unterdichten oder „Blasen“ nicht vor - sie dürften eigentlich nicht existieren. Stattdessen sollte die Materie im All gleichmäßig verteilt sein. Falls dem so wäre, ließe sich aber nur schwer erklären, welche Kräfte die Galaxien zu ihrer hohen Geschwindigkeit treiben.
„Das Standardmodell fußt auf einer von Albert Einstein aufgestellten Theorie zur Natur der Gravitation“, sagt Kroupa. „Eventuell verhalten sich die Gravitationskräfte aber anders als von Einstein erwartet.“ Die Arbeitsgruppen der Universitäten Bonn und St. Andrews haben in einer Computersimulation eine abgewandelte Gravitationstheorie verwandt. Diese „Modifizierte Newton'sche Dynamik“ (Abkürzung: MOND) wurde vor vier Jahrzehnten vom israelischen Physiker Prof. Dr. Mordehai Milgrom vorgeschlagen. Sie gilt bis heute als Außenseiter-Theorie. „In unseren Berechnungen sagt MOND die Existenz derartiger Blasen jedoch exakt voraus“, sagt Kroupa.
Nähme man an, dass sich die Gravitation tatsächlich nach den Milgrom’schen Vorstellungen verhält, würde die Hubble-Spannung verschwinden: Es gäbe tatsächlich nur eine Konstante für die Ausdehnung des Universums, und die beobachteten Abweichungen wären auf Ungleichmäßigkeiten in der Materieverteilung zurückzuführen.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.