Topologische Materialien werden umschaltbar
Physik-News vom 10.10.2022
Weil sie extrem stabil sind, spielen sogenannte „topologische Zustände“ in der Materialforschung eine wichtige Rolle. Nun gelang es erstmals, solche Zustände gezielt ein- und auszuschalten.
Ein Donut ist kein Frühstücksbrötchen. Es handelt sich um zwei ganz eindeutig unterscheidbare Objekte: Das eine hat ein Loch, das andere nicht. In der Mathematik sagt man: Die beiden Formen sind topologisch unterschiedlich – man kann nicht eine davon durch kleine, kontinuierliche Verformung in die andere umwandeln. Der Unterschied zwischen ihnen ist also robust gegenüber Störungen: Auch wenn man das Brötchen knetet und biegt sieht es noch immer nicht aus wie ein Donut.
Publikation:
Dzsaber, S., Zocco, D.A., McCollam, A. et al.
Control of electronic topology in a strongly correlated electron system
Nat Commun 13, 5729 (2022)
DOI: 10.1038/s41467-022-33369-8
Solche topologischen Eigenschaften spielen – auf etwas abstraktere Weise – auch in der Materialwissenschaft eine wichtige Rolle. Wenn sich eine Materialeigenschaft topologisch erklären lässt, dann ist sie ebenfalls robust gegenüber Störungen: Eine Änderung der Umgebungsbedingungen bringt sie nicht zum Verschwinden. Nun gelang es an der TU Wien erstmals, eine solche topologische Eigenschaft gezielt umzuschalten: Bestimmte Materialzustände sind in einem großen Parameterbereich problemlos stabil gegen Störungen, doch bei einem gewissen Magnetfeld kann man sie völlig ausschalten. Damit werden topologische Materialeigenschaften erstmals manipulierbar.
Geometrie in abstrakten Räumen
Wenn man in der Physik von „topologischen Eigenschaften“ eines Materials spricht, dann hat das nichts mit seiner geometrischen Form zu tun – es geht nicht etwa um Kristallproben, die Donut- oder kugelförmig sind. Entscheidend ist vielmehr das komplexe Zusammenspiel der vielen Elektronen im Material.
Dieses Zusammenspiel kann man mathematisch auf ganz bestimmte Arten darstellen. Oft ist es nützlich, sich nicht um den Aufenthaltsort der Elektronen zu kümmern, sondern eher um ihren Impuls – oder anders gesagt: Um ihre Position in einem gedachten „Impulsraum“. In solchen mathematisch-abstrakten Räumen können sich dann Eigenschaften zeigen, die nach topologischen Kriterien voneinander unterschieden werden können – ähnlich wie Donut und Brötchen.
„Solche topologischen Eigenschaften zu finden ist für sich genommen schon eine spannende Sache, 2016 wurde für die Entdeckungen solcher Zustände der Physik-Nobelpreis vergeben“, sagt Prof. Silke Bühler-Paschen vom Institut für Festkörperphysik der TU Wien. „Doch was wir nun präsentieren konnten, ist ein ganz neuer Schritt: Uns ist es erstmals gelungen, solche topologischen Zustände zu manipulieren und sogar auszuschalten.“
Extremer topologischer Effekt auf langsame Ladungsträger
Verwendet wurde dafür ein spezielles Material aus Cer, Bismut und Palladium, an dem Bühler-Paschens Forschungsgruppe schon in vergangenen Jahren mehrere spektakuläre Entdeckungen machte. So konnte man in diesem Material etwa exotisches topologisches Verhalten nachweisen, indem man die elektrischen oder thermischen Eigenschaften des Materials genau misst.
Dieses Verhalten ergibt sich dadurch, dass sich die elektrische Ladung in diesem Material auf ganz spezielle Weise bewegt. In einem gewöhnlichen elektrisch leitenden Material fließt Strom, indem einfach einzelne Elektronen durch das Material wandern. In diesem speziellen Material ist das aber anders. Durch das Zusammenspiel vieler Ladungsträger entstehen hier ganz spezielle „Quasiteilchen“ – eine kollektive Anregung der Ladungsträger, die sich durch das Material ausbreiten kann, ähnlich wie sich Schall als Dichte-Welle durch die Luft ausbreiten kann, ohne dass sich einzelne Luftteilchen von der Schallquelle zum Schallempfänger bewegen müssen.
Diese Anregungen, die auf exotische Weise für den Transport elektrischer Ladung sorgen, bewegen sich in diesem Material sehr langsam. Sie kommen gewissermaßen nicht gut aneinander vorbei. Und das führt dazu, dass die topologischen Eigenschaften des Materials im Impulsraum in diesem Fall ganz besonders stark zur Geltung kommen.
Topologische Eigenschaften ausschalten
„Unsere Messungen zeigen, dass diese elektrischen und thermischen Eigenschaften tatsächlich robust sind, wie man das von topologischen Materialeigenschaften erwartet“, sagt Bühler-Paschen. Kleine Verunreinigungen oder äußere Störungen bringen keine dramatische Änderung mit sich. „Doch erstaunlicherweise fanden wir heraus: Mit einem äußeren Magnetfeld kann man diese topologischen Eigenschaften kontrollieren. Man kann sie an einem gewissen Punkt sogar völlig zum Verschwinden bringen. Wir haben also stabile, robuste Eigenschaften, die man gezielt ein- und ausschalten kann.“
Möglich wird diese Kontrolle durch die innere Struktur der Anregungen, die für den Ladungstransport zuständig sind: Sie tragen nicht nur elektrische Ladung, sondern auch ein magnetisches Moment – und dadurch ist es möglich, sie durch ein Magnetfeld umzuschalten.
„Das Schalten kann man sich so vorstellen, dass diese Ladungsträger, wenn man ein immer stärkeres äußeres Magnetfeld anlegt, immer näher aneinandergeschoben werden, bis sie einander treffen und sich gegenseitig auslöschen – ähnlich wie ein Materieteilchen und ein Antimaterieteilchen, wenn man sie miteinander kollidieren lässt“, sagt Silke Bühler-Paschen.
Weltweite Suche nach spannenden Anwendungsmöglichkeiten
Die Experimente wurden an der TU Wien durchgeführt, für einige zusätzliche Messungen konnte das Team Hochfeldlabore in Nijmegen (Niederlande) und am Los Alamos National Laboratory (USA) nutzen. Theoretische Arbeit kam von der Rice University in Texas.
„Diese neu entdeckte Steuerbarkeit macht die topologischen Materialien, die bisher schon für so viel Aufmerksamkeit in der Physik gesorgt haben, noch einmal interessanter“, ist Silke Bühler-Paschen überzeugt. Möglicherweise könnten die umschaltbaren topologischen Zustände für die Sensor- oder Schalttechnik genutzt werden. Gerade weil die Anregungen im Material so langsam sind und daher eine sehr geringe Energie haben, sind sie besonders interessant: Die Anregungen koppeln dadurch nämlich an Strahlung im Mikrowellenbereich, die technisch besonders wichtig ist. Auch ganz neue, exotischere Anwendungen in der Elektronik, bis hin zum Quantencomputer sind vorstellbar.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Technischen Universität Wien via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.