Wie beeinflussen urbane Strukturen die Ausbreitung von Erdbebenwellen?
Physik-News vom 18.04.2024
Experimente in einem Windpark in Nauen bei Berlin zeigen, dass menschengemachte Bauwerke ähnlich wie ein Metamaterial wirken und seismische Wellen modifizieren. Die neue Studie im Fachmagazin Frontiers in Earth Science trägt so auch zur anhaltenden Debatte über das Anthropozän bei.
Städte und ihr dichter Gebäudebestand sind nicht nur besonders von Erdbeben gefährdet, sie beeinflussen auch selbst in erheblichem Maße die Ausbreitung von Erdbebenwellen. Dabei können die zerstörerischen Oberflächenwellen durch regelmäßig angelegte Gebäude- oder Gebäude-ähnliche Strukturen abgeschwächt werden.
Publikation:
Pilz, M., Cotton, F. et al.
Wind turbines as a metamaterial-like urban layer: an experimental investigation using a dense seismic array and complementary sensing technologies
Frontiers in Earth Science, 12, 1352027 (2024)
DOI: 0.3389/feart.2024.1352027
Das zeigt nun erstmals die Studie eines Teams um Marco Pilz und Fabrice Cotton vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ am Beispiel eines Windparks in Nauen bei Berlin. Die Windkraftanlagen können als elementare Bausteine sogenannter seismischer Metamaterialien betrachtet werden. Solche künstlich erzeugten, meist regelmäßigen Strukturen beeinflussen das seismische Wellenfeld stark. Mit sehr viel kleineren Strukturen wurde dieses Prinzip für optische und akustische Wellen bereits demonstriert. Die neue Studie untersucht die Effekte von Strukturen in städtischen Dimensionen auf seismische Wellen – und trägt so auch zur anhaltenden Debatte über das Anthropozän bei. Sie ist im Fachmagazin Frontiers in Earth Science erschienen.
Hintergrund: Das Prinzip Metamaterial
Eine der großen Herausforderungen im Erdbebeningenieurwesen ist es, die zerstörerische Wirkung der oberflächennahen Erdbebenwellen auf Gebäude insbesondere in Städten zu vermindern. Hier ergibt sich ein komplexes seismisches Wellenfeld, das durch die Wechselwirkung von Erdbebenwellen und von ihnen in Resonanzschwingung gebrachten Gebäudestrukturen entsteht.
Wie beeinflusst die Urbanisierung die Ausbreitung von seismischen Wellen? Und kann man diese Wellen durch gezielt gestaltete bauliche Strukturen kontrollieren und umlenken? Für Licht und Schall ist das bereits gut untersucht: Experimente mit geeignet strukturierten Materialien haben gezeigt, dass sich Licht- und Schallwellen um ein Objekt herumleiten lassen. Das Objekt ist damit kein Hindernis mehr und wird für die Wellen quasi unsichtbar – eine Art Tarnkappeneffekt.
Solche künstlichen Strukturen werden Metamaterialien genannt. Sie sind aus vielen regelmäßig angeordneten sogenannten Resonatoren aufgebaut, die selber zum Schwingen und damit zum Aussenden entsprechender Wellen angeregt werden können. Wellen, die von außen auf die Resonator-Struktur treffen, werden dann in bestimmten Richtungen ausgelöscht. In einem bestimmten Wellenlängenbereich bzw. Frequenzspektrum können die Wellen damit an ihrer Ausbreitung gehindert werden.
Die Wellenleiteigenschaften eines Metamaterials werden durch Größe, Abstand und sonstige Eigenschaften der Resonatoren bestimmt. Insbesondere müssen die Strukturen typischerweise etwa halb bis ein Zehntel so groß sein wie die zu beeinflussende Wellenlänge. Auf diese Weise ergeben sich neuartige optische oder akustische Eigenschaften, die natürliche Materialien nicht besitzen.
Metamaterialien für Erdbebenwellen?
Seit einigen Jahren gibt es bereits die Idee, die in der Akustik und Optik beobachteten Phänomene auch auf großen räumlichen Skalen zu untersuchen. So kann jeder dichte, regelmäßige Gebäudebestand wie ein Metamaterial wirken. Auf diese Weise könnte auch die Ausbreitung des seismischen Wellenfeldes nach einem Erdbeben beeinflusst werden, insbesondere die Oberflächenwellen, die für Infrastruktur und Gebäude das größte Zerstörungspotenzial haben. In früheren Studien wurden beispielsweise die Effekte regelmäßig angeordneter Gräben und Bohrlöcher, aber auch von Wäldern untersucht.
Als erste Annäherung an eine städtische Gebäudestruktur haben Forschende um Marco Pilz und Fabrice Cotton vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ in Potsdam nun Windkraftanlagen, die in einem Windpark regelmäßig angeordnet sind, untersucht. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Forschungseinrichtungen in Grenoble und Toulouse (Frankreich), von der Universität Potsdam und der Ludwigs-Maximilians-Universität München haben sie im Februar 2023 Messungen in einem Windpark bei Nauen westlich von Berlin durchgeführt. Auf einer Fläche von 1,5 mal 2,5 Quadratkilometern installierten sie ein Netzwerk aus rund 400 Geophonen, die die Bodenschwingungen aufzeichneten. Dabei wurden keine expliziten Erdbebenwellen betrachtet oder künstlich erzeugt, sondern die natürlichen Bodenschwingungen, die sich im selben Frequenzbereich bewegen. Ergänzt wurde das Methodenspektrum durch weitere geophysikalische Instrumente wie optische Fasern, mit denen verschiedene Welleneigenschaften gemessen werden können, sowie Rotations- und Barometersensoren, und durch ein numerisches Modell der einzelnen Windkraftanlagen.
Baustrukturen wie Windkraftanlagen beeinflussen seismische Wellen deutlich, sind aber kein ideales Metamaterial
„In unserer Studie haben wir zum ersten Mal gezeigt, dass Baustrukturen im Maßstab eines Stadtviertels miteinander, mit dem seismischen Wellenfeld und auch mit dem atmosphärischen Druckfeld interagieren können. Unsere Messungen demonstrieren, dass die dichte Anordnung von Windkraftanlagen die Stärke seismischer Wellen im Frequenzbereich von wenigen Hertz, der für eine erdbebensichere Bauweise von Interesse ist, deutlich verringert aber nicht ausgelöscht“, resümiert Marco Pilz, Wissenschaftler in der GFZ-Sektion „Erdbebengefährdung und dynamische Risiken“.
Im Grunde passiert Folgendes: Die Windenergieanlagen schwingen ständig bei bestimmten Resonanzfrequenzen, ähnlich wie ein Haus es auch tut. Sobald aus der Ferne eine Oberflächenwelle auf eine Windkraftanlage trifft, deren Resonanzfrequenz der Frequenz der seismischen Wellen entspricht, entsteht an dieser Stelle eine sogenannte sekundäre Wellenquelle. Da die resonanten Metamaterialien phasenverschoben schwingen, richten sich ihre Schwingungen gegen die ankommende Bodenbewegung und können diese so verringern.
Dass der Windpark kein perfektes Metamaterial-Verhalten zeigt, könnte den Forschenden zufolge auch daran liegen, dass der Windpark nicht als Metamaterial angelegt ist: Die Windkraftanlagen variieren in der Höhe und im Gewicht und sind nicht perfekt periodisch aufgestellt. Ihr Schwingungsverhalten ist komplex. Auch die eher weiche und schichtartige Bodenstruktur könnte eine Rolle spielen. Ausblick: Untersuchung städtischer Strukturen und ein Grundverständnis für die Auswirkungen menschlicher Eingriffe auf die Landschaften der Erde als Beitrag zur Diskussion um das Anthropozän
„Unsere Ergebnisse ebnen einerseits den Weg für mögliche zukünftige Anwendungen im Hinblick auf die Minderung seismischer Gefahren in städtischen Gebieten“, sagt Fabrice Cotton, Co-Autor und Leiter der Sektion „Erdbebengefährdung und dynamische Risiken“ am GFZ und Professor für Seismologie an der Universität Potsdam.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen sich aber nicht nur mit diesem speziellen Aspekt des Phänomens ‚Metamaterial‘ befassen: „Am Beispiel des Windparks haben wir gezeigt, dass urbane Gebiete neuartige Wellenausbreitungseigenschaften aufweisen, was den transformativen Einfluss menschlicher Aktivitäten auf die Landschaften der Erde verdeutlicht. Hierfür wollen wir ein umfassenderes Verständnis entwickeln, auch als Beitrag zur Diskussion um das Anthropozän“, betont Cotton. Damit werde ein Paradigmenwechsel im Verständnis der städtischen Umwelt eingeleitet: Städte sind nicht länger bloße Ansammlungen von Gebäuden und Infrastrukturen, sondern entpuppen sich als dynamische Gebilde mit neu entstehenden Eigenschaften, ähnlich wie komplexe Metamaterialien.
„Das zu untersuchen ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe für die Zukunft, die sowohl eine gewisse Demut vor der großen Zahl an unbekannten Einflussfaktoren erfordert, als auch eine Kooperation über die Grenzen fachlicher Disziplinen hinweg“, sagt Cotton.
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Helmholtz-Zentrums Potsdam - Deutschen GeoForschungsZentrums GFZ via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.