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Der | Der [[Anglizismus]] '''Tipping-Point''' ({{deS|„Umkipp-Punkt“, „Kipppunkt“ oder „Kippelement“}}) ist in der [[Netzwerkökonomik]] die [[Kritische Masse (Spieltheorie)|kritische Masse]], die erforderlich ist, damit sich eine [[Nachricht]] oder ein [[Sozialverhalten]] massenhaft verbreitet. Auch andere Fachgebiete verwenden diesen Begriff. | ||
== Allgemeines == | |||
Der Tipping-Point wird manchmal mit dem [[Wendepunkt]] in der [[Mathematik]] ({{enS|inflection point}}) als synonym angesehen, beide haben jedoch im Englischen vollkommen andere Bezeichnungen und [[Begriffsinhalt]]e. Der Begriff des Tipping-Points stammt vielmehr ursprünglich aus der [[Massenpsychologie]] und [[Soziologie]], wo er einen kritischen Punkt in einer [[Situation]], einem [[Prozess]] oder einem [[System]] beschreibt, „über den hinaus eine signifikante und oft unaufhaltsame Wirkung oder Veränderung stattfindet“.<ref>[[Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary]] (Hrsg.), ''Webster’s New International Dictionary'', 2008, S. 876 ff.</ref> | |||
== Entstehungsgeschichte == | |||
Morton Godzins adaptierte 1957 den Begriff aus der [[Physik]], wo die Zufügung eines weiteren Objekts zu einem ausbalancierten Objekt dieses zum Umkippen ({{enS|tip over}}) bringt<ref>[https://books.google.de/books?id=EmlHEAAAQBAJ&pg=PA246&dq=tipping+point+1957+grodzins&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjq89Kfr6z1AhWjhP0HHRXSC1YQ6AF6BAgKEAE#v=onepage&q=tipping%20point%201957%20grodzins&f=false Jean d'Aspremont/John Haskell (Hrsg.), ''Tipping Points in International Law'', 2021, S. 246]</ref> (siehe das [[Gleichgewicht (Systemtheorie)#Verhalten von Gleichgewichten bei Störungen|Verhalten von Gleichgewichten bei Störungen]]). Godzins untersuchte die damalige [[Rassentrennung]] ({{enS|segregation}}) in städtischen Wohngebieten der USA und stellte fest, dass bei nur geringem schwarzen Bevölkerungsanteil die rassische [[Demografie]] gleichblieb. Beobachtet nun aber die weiße Bevölkerungsmehrheit den Zuzug größerer Gruppen von Schwarzen, wird dies einen massenhaften Wegzug Weißer zu Folge haben. Diesen Zeitpunkt bezeichnete er als Tipping Point.<ref>Morton Godzins, ''Metropolic Segregation'', in: Scientific American 24, 1957, S. 33–41</ref> | |||
[[Thomas Schelling]] entwickelte 1971 in seinem [[Segregation (Soziologie)|Segregationsmodell]] die Theorie des „Nachbarn rauskegeln“ ({{enS|neigborhood tipping}}). Tipping liegt danach vor, wenn eine wahrnehmbare [[Minderheit]] in der [[Nachbar]]schaft eine Größe erreicht, welche die [[Mehrheit]] der anderen Nachbarn zum Auszug veranlasst und sich damit die Zusammensetzung der Nachbarschaft verändert. „Der Punkt, an welchem im folgenden Jahr ein gesteigerter Anteil von Negern vorhanden ist, heißt Kipp-Punkt“ ({{enS|…exaggerated increase the following year in the proportion of negroes, then we have found the ‚tipping point‘ …}}).<ref>Thomas C. Schelling, ''Dynamic Models of Segregation'', in: Journal of Mathematical Society vol. 1, 1971, S. 157 f.</ref> Dieser schnelle Wandel in der Bevölkerungsstruktur ist Morton Godzins zufolge nur schwer wieder umkehrbar.<ref>Morton Godzins, ''Metropolic Segregation'', in: Scientific American 24, 1957, S. 33–41</ref> | |||
== | == Weitere Verwendungen == | ||
In der | In der Netzwerkökonomie gibt es unter anderem zwei Fachgebiete, die sich mit dem Tipping-Point auseinandersetzen. | ||
* Netzwerkökonomie: [[Robert Metcalfe]] bezeichnete in seinem [[Metcalfesches Gesetz|Metcalfeschen Gesetz]] den Tipping-Point die in einem [[Netzwerk]] erforderliche kritische Masse an [[Benutzer]]n; wird sie überschritten, soll sein Gesetz nicht mehr gelten.<ref>[https://phys.org/news/2006-06-metcalfe-law-wrong.html Bob Briscoe/Andrew Odlyzko/Benjamin Tilly, ''Metcalfe's law is wrong'', in: IEEE Spectrum Magazine vol. 43, Juli 2006, S. 34 – 39]</ref> Am [[Straßennetz]] lässt sich dies leicht erklären: Wird die normale [[Netzlast]] des Straßennetzes durch [[Verkehrsteilnehmer]] etwa zur [[Hauptverkehrszeit]] überschritten, kommt es zu [[Verkehrsstau]]s und langfristig zum [[Verkehrsinfarkt]] – einer [[Netzstörung]], bei welcher die [[Kosten]] (Staukosten) den [[Nutzen (Wirtschaft)|Nutzen]] für jeden Verkehrsteilnehmer überschreiten. | |||
* [[Malcolm Gladwell]]s im Jahre 2000 erschienenes Buch<ref>Malcolm Gladwell, ''The Tipping Point: How Little Things Can Make A Big Difference'', 2000, S. 1 ff; ISBN 0-316-31696-2</ref> befasst sich mit der Theorie zur Entstehung sozialer Epidemien und mit der Frage, welche Faktoren für ihre Verbreitung nötig sind.<ref>[https://books.google.de/books?id=OT0rCwAAQBAJ&pg=PT15&dq=Tipping-Point&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwiVwPeiqKz1AhW5h_0HHXKhBGYQ6AF6BAgIEAE#v=onepage&q=Tipping-Point&f=false Malcolm Gladwell, ''Tipping Point: Wie kleine Dinge Großes bewirken können'', 2002/2016, o. S.]</ref> Gladwell, der die Theorie stark geprägt hat, beschreibt den „Tipping Point“ als den Moment, wenn in einem [[Online-Community|sozialen Netzwerk]] die kritische Masse erreicht wird, an dem der Virus zu einer Epidemie wird und sich somit [[Exponentielles Wachstum|exponentiell]] ausbreitet.<ref>Malcolm Gladwell, ''The Tipping Point: How Little Things Can Make A Big Difference'', 2002, S. 18 ff.</ref> Der „Virus“ sind hier [[Nachricht]]en, [[Meinung]]en oder [[soziales Verhalten]], die sich massenweise verbreiten. Geeignet sind vor allem [[Massenmedien]] ([[Fernsehen]], [[Blog]]s, [[E-Mail]]s, [[Internetforum]], [[Rundfunk]], [[Soziales Netzwerk (Internet)|soziale Netzwerke]]) und hier die Meinungsführer ([[Moderator#Anchorman|Anchor Man]], [[Blogger]], [[Influencer]]), die innerhalb ihrer Gruppe – aber nicht unbedingt allgemein – als [[Experte]]n angesehen werden.<ref>Sascha Langner, ''Viral Marketing'', 2007, S. 27 ff.</ref> | |||
Gladwell hat drei Faktoren identifiziert, die für die Ausbreitung einer [[Epidemie]] verantwortlich sind: | Gladwell hat drei Faktoren identifiziert, die für die Ausbreitung einer [[Epidemie]] verantwortlich sind: | ||
=== The Law of the Few ({{deS|„Das Gesetz der Wenigen“}}) === | |||
Nicht alle Mitglieder einer Gruppe haben den gleichen Einfluss. Vielmehr haben einzelne Mitglieder einen überproportional großen Einfluss, Veränderungen herbeizuführen. | |||
=== Stickiness ({{deS|„Haftenbleiben“}}) === | |||
Die Präsentation einer Botschaft hat einen großen Einfluss darauf, ob die Adressaten tatsächlich zum Handeln motiviert werden können. Hierbei können auch kleine Änderungen große Auswirkungen haben. Zum Beispiel floppte die Kindersendung „[[Sesamstraße]]“ bei ersten Pilotversuchen in den USA, wurde dann aber doch ein Erfolg. Das ursprüngliche Konzept wurde nur durch die Hinzufügung der Figur [[Sesamstraße#Bibo und Klein Bibo|Bibo]] geändert. | |||
=== The | === The Power of Context ({{deS|„Umweltbedingungen“}}) === | ||
Menschen sind in ihrem Handeln sehr stark von den Umgebungsbedingungen der jeweiligen Situation beeinflusst. Insofern sind die Ausbreitung von Epidemien und der Erfolg von Maßnahmen abhängig von der Situation der Adressaten. Ein Beispiel hierfür ist die Anwendung der [[Broken-Window-Theorie#Brattons Zero-Tolerance-Modell|Broken-Windows-Theorie]] durch [[New York City|New Yorks]] Bürgermeister [[Rudolph Giuliani]] ab 1994. Die Polizei New Yorks konzentrierte sich auf die Bekämpfung scheinbarer Bagatellverbrechen, die aber die [[Lebensqualität]] der Einwohner New Yorks beeinträchtigten, um so Zeichen für [[Nulltoleranzstrategie|„Null-Toleranz“]] zu setzen. Die Politik Giulianis führte zu einem erheblichen Rückgang der Verbrechen in New York. Den potentiellen Verbrechern in New York wurde deutlich gemacht, dass „Null-Toleranz“ auch gegenüber kleinen Übertretungen herrschte, und diese Haltung wurde zum ''Tipping-Point'' in der Verbrechensstatistik New Yorks.<ref>Malcolm Gladwell, ''Tipping Point. Wie kleine Dinge Großes bewirken können'', 2002/2016, S. 146</ref> | |||
In einem Interview im ZEIT-Magazin<ref>Die Zeit vom 28. Mai 2009, ''Gladwell-Interview'', S. 11–13</ref> weist Gladwell auf eine andere Theorie hin. Menschen mit [[Bleivergiftung]] werden demnach enthemmt.<ref>Hans Marquardt/Siegfried G. Schäfer (Hrsg.), ''Lehrbuch der Toxikologie'', [[Spektrum Akademischer Verlag]], Heidelberg, 1997. ISBN 3-8274-0271-9, S. 513–517</ref> „In den USA verschwand das Blei 1973 aus dem Benzin. Genau 18 Jahre später, als die damals Geborenen also in das Alter kamen, in dem man gemeinhin kriminell wird, beginnt der steile Abfall der [[Kriminalitätsrate]] in Großstädten.“<ref>Die Zeit vom 28. Mai 2009, ''Gladwell-Interview'', S. 13</ref> [[Steven Levitt]]<ref>Steven Levitt, ''Freakonomics: A Rogue Economist Explores the Hidden Side of Everything'', 2005</ref> beschreibt die Studie von Lott und Whitley, die eine plausiblere Alternativerklärung aufzeigt, indem sie sich anhand statistischer Daten mehrerer Länder dem Thema nähert. Es ist also davon auszugehen, dass eine Vielzahl von Faktoren zu diesem Effekt beigetragen hat, lediglich die Inklusion all dieser in eine groß angelegte Studie könnte genauere Aufschlüsse auf Kausalitäten geben. | |||
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=== | === Marketing === | ||
Bei der [[Marktbearbeitung]] müssen nicht alle potenziellen [[Güternachfrage]]r von einem Produkt überzeugt werden. Es genügt vielmehr, wenn eine bestimmte Anzahl von [[Verbraucher]]n überzeugt ist; dann setzt sich das Produkt selbst tragend durch. Die Kenntnis vom Schwellenwert, an dem der Tipping-Point für [[Mitläufer]] oder [[Herdenverhalten]] erreicht wird, ist von großer Bedeutung für [[Preisbildung]] und [[Marketing]].<ref>[https://books.google.de/books?id=oZnBDwAAQBAJ&pg=PA230&dq=Tipping-Point+netzwerke&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwit-8ntqqz1AhVx8LsIHTvrC-UQ6AF6BAgJEAE#v=onepage&q=Tipping-Point%20netzwerke&f=false Reiner Clement/Dirk Schreiber/Paul Bossauer/Christina Pakusch, ''Internet-Ökonomie'', 2019, S. 4]</ref> | |||
;Digitalkamera ersetzt Analogkamera | |||
Der Übergang von der [[Analogkamera]] zur [[Digitalkamera]] wird als Tipping Point bezeichnet. Innerhalb von drei Jahren ist der [[Marktanteil]] der Digitalkameras beim Verkauf von 5 % auf 90 % gestiegen. Kurze Zeit später ist der Verkauf der Analogkameras fast auf Null gesunken.<ref name="jürgen_klöckner" /><ref name="lars_thomsen" /> | |||
;Flachbildschirm ersetzt Röhrenmonitor | |||
Der Übergang vom [[Röhrenmonitor]] zum [[Flachbildschirm]] ist ebenfalls ein Tipping Point. Innerhalb von drei Jahren ist der Marktanteil der Flachbildschirme von 5 % auf 90 % gestiegen. Kurz danach ist der Marktanteil von Röhrenmonitoren gegen Null gegangen.<ref name="jürgen_klöckner" /><ref name="lars_thomsen" /> | |||
= | === Management === | ||
In der [[Wirtschaft]] wird das Phänomen Tipping Point als Element eines [[Führungsstil]]s betrachtet. Man geht davon aus, dass Veränderungen in der [[Organisation]] nicht auf der Verwandlung der Masse beruhen. Vielmehr muss man sich auf Einzelne bzw. Extreme konzentrieren, welche einen [[asymmetrisch]] großen Einfluss auf die so genannte [[Performance (Risikomanagement)|Performance]] haben und so rasch einen „Tipping Point“ zur Veränderung auslösen. | |||
=== | === Klimatologie === | ||
Aktuell wird dieser Begriff häufig im Zusammenhang mit [[Klimamodell]]en verwendet. Wissenschaftler vermuten, dass es [[Kippelemente im Erdsystem|Tipping Points in der Klimaentwicklung]] gibt (z. B. spontane, grundsätzliche Änderungen im globalen Wärmetransport durch veränderte Wasser- oder Luftströmungen), welche dramatische [[Klimaveränderung]]en in sehr kurzer Zeit bewirken. Zu diesen Kippelementen zählen etwa das Abschmelzen des [[Grönländischer Eisschild|Grönländischen Eisschilds]] oder eine Veränderung des [[El Niño|El-Niño]]-Phänomens.<ref>{{Internetquelle |url=http://germanwatch.org/rio/hjsint06.pdf |titel=Kipp-Punkte im Klimasystem. Interview mit Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung |autor=Christoph Bals |hrsg=Germanwatch |datum=2006 |zugriff=2014-02-20}}</ref> | |||
{{Hauptartikel|Kippelemente im Erdsystem}} | {{Hauptartikel|Kippelemente im Erdsystem}} | ||
Das System Erde besitzt eine Vielzahl von aufeinander wirkenden Rückkopplungen. Dies führt dazu, dass eine graduelle Klimaveränderung | Das System Erde besitzt eine Vielzahl von aufeinander wirkenden Rückkopplungen. Dies führt dazu, dass eine graduelle [[Klimaveränderung]] gravierende Folgen haben kann. Diese können in Form von [[Abrupter Klimawechsel|abrupten Klimawechseln]] das Klima auf regionaler oder globaler Ebene beeinflussen. Daneben existieren auch konkrete Kippelemente, die bei Überschreiten eines „Tipping-Point“ ihren Zustand rasch und meist schwer, zum Teil auch irreversibel ändern können.<ref name="DOI10.1073/pnas.0705414105">{{cite journal| author = [[Timothy M. Lenton]]/Hermann Held/[[Elmar Kriegler]]/Jim W. Hall/[[Wolfgang Lucht]]/[[Stefan Rahmstorf]]/[[Hans Joachim Schellnhuber]]| authorlink =| year = 2008| month = 02| day = 12| title = Tipping elements in the Earth's climate system| journal = Proceedings of the National Academy of Sciences| volume = 105| issue = 6| pages = 1786–1793 | ||
{{cite journal | | doi = 10.1073/pnas.0705414105| pmid = | id = {{ISSN|0027-8424}}| url = http://www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.0705414105}}</ref> Wenngleich die Existenz der Kippelemente als nahezu gesichert gilt, ist nur näherungsweise bekannt, zu welchem Zeitpunkt die Tipping-Points dieser Elemente wirksam werden. Forschungen zur Schmelzdynamik von Gletschern des [[Westantarktischer Eisschild|Westantarktischen Eisschildes]] ergaben, dass dort der Tipping-Point für ihr Abschmelzen erreicht wurde. Allein die Masse des dortigen [[Pine-Island-Gletscher]]s und weiterer Gletscher im Gebiet der Amundsen-See würde zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 1,2 m weltweit führen. Es ist zugleich ein Beispiel für einen unumkehrbaren [[Point of no Return]], da sich das weitergehende Abschmelzen in den kommenden Jahrhunderten auch durch eine verringerte globale Erwärmung wahrscheinlich nicht mehr aufhalten ließe: Durch das bereits heute gemessene Aufschwimmen des Eisschelfs fehlt dem Inlandsgletscher ein Widerlager, er gleitet zunehmend ins Meer, wo die Temperatur wesentlich höher liegt als an Land.<ref>[http://www.nasa.gov/jpl/news/antarctic-ice-sheet-20140512/#.U5R21R_Evv4 NASA Jet propulsion laboratory News (Hrsg.), ''The "unstable" West Antarctic Ice sheet: A primer'']</ref> | ||
| author = | |||
| authorlink = | === Physik === | ||
| year = 2008 | Die [[Zubereitung]] von [[Popcorn]]: Man gibt Öl in einen Topf, einige Millimeter hoch. Danach gibt man Maiskörner dazu, stellt den Topf auf den Herd und erhitzt ihn. Der Topf wird wärmer, aber es wird zuerst nichts passieren. Erst nach einigen Minuten, wenn das Öl die Temperatur von 163 °C erreicht hat, wird das erste Maiskorn aufplatzen. Das liegt daran, dass ein Maiskorn außen eine harte und stabile Hülle hat, innen mit weicher und wasserhaltiger [[Stärke]] gefüllt ist. Das Wasser im Inneren beginnt zu kochen und zu verdampfen, und es wird Druck aufgebaut, bis die Hülle dem Druck nicht mehr standhalten kann und platzt: Nach und nach werden die Maiskörner explodieren. Erst wenige, dann immer mehr (Tipping-Point) und immer schneller, bis die Temperatur von 169 Grad Celsius erreicht ist. Das hängt damit zusammen, dass nicht alle Maiskörner gleich groß sind, die Hüllen der Maiskörner nicht alle gleich dick sind usw. Aber in dem schmalen Bereich von 163 Grad Celsius bis 169 Grad Celsius werden fast alle platzen, und der Prozess ist nicht mehr umkehrbar.<ref name="jürgen_klöckner">Jürgen Klöckner: [http://www.zeit.de/mobilitaet/2013-10/elektroauto-durchbruch-trendforscher ''Trendforscher erwartet baldigen Durchbruch der E-Autos''], 5. November 2013, [[Die Zeit|zeit.de]]</ref><ref name="lars_thomsen">[https://www.youtube.com/watch?v=JHUzfw24oCk ''Elektromobilität: Revolution der Automobilindustrie von Lars Thomsen''], Vortrag von Lars Thomsen auf der 26. internationalen „Motor und Umwelt“-Konferenz der AVL List GmbH am 12. September 2013 in Graz, Österreich, Video bei [[YouTube]], veröffentlicht am 11. Oktober 2013</ref> | ||
| month = 02 | |||
| day = 12 | == Siehe auch == | ||
| title = Tipping elements in the Earth's climate system | * [[Gleichgewicht (Systemtheorie)#Verhalten von Gleichgewichten bei Störungen]] | ||
| journal = Proceedings of the National Academy of Sciences | * [[Dialektische Grundgesetze#Umschlag von Quantität in Qualität|qualitativer Umschlagspunkt]] | ||
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</ref> Wenngleich die Existenz der Kippelemente als nahezu gesichert | |||
== Literatur == | == Literatur == | ||
* Malcolm Gladwell: ''The Tipping Point – How Little Things Can Make A Big Difference'' | * Malcolm Gladwell: ''The Tipping Point – How Little Things Can Make A Big Difference.'' 2000. | ||
* W. Chan Kim | ** Deutsche Ausgabe: ''Der Tipping Point. Wie kleine Dinge Großes bewirken können.'' Goldmann Verlag, München 2002, ISBN 978-3-442-12780-1. | ||
* W. Chan Kim/Renée Mauborgne: ''Der Blaue Ozean als Strategie. Wie man neue Märkte schafft, wo es keine Konkurrenz gibt.'' Carl Hanser Verlag, München und Wien 2005, ISBN 3-446-40217-9, insbesondere Kapitel 7. | |||
== | == Einzelnachweise == | ||
<references/> | <references/> | ||
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Der Anglizismus Tipping-Point (deutsch „Umkipp-Punkt“, „Kipppunkt“ oder „Kippelement“) ist in der Netzwerkökonomik die kritische Masse, die erforderlich ist, damit sich eine Nachricht oder ein Sozialverhalten massenhaft verbreitet. Auch andere Fachgebiete verwenden diesen Begriff.
Der Tipping-Point wird manchmal mit dem Wendepunkt in der Mathematik (englisch inflection point) als synonym angesehen, beide haben jedoch im Englischen vollkommen andere Bezeichnungen und Begriffsinhalte. Der Begriff des Tipping-Points stammt vielmehr ursprünglich aus der Massenpsychologie und Soziologie, wo er einen kritischen Punkt in einer Situation, einem Prozess oder einem System beschreibt, „über den hinaus eine signifikante und oft unaufhaltsame Wirkung oder Veränderung stattfindet“.[1]
Morton Godzins adaptierte 1957 den Begriff aus der Physik, wo die Zufügung eines weiteren Objekts zu einem ausbalancierten Objekt dieses zum Umkippen (englisch tip over) bringt[2] (siehe das Verhalten von Gleichgewichten bei Störungen). Godzins untersuchte die damalige Rassentrennung (englisch segregation) in städtischen Wohngebieten der USA und stellte fest, dass bei nur geringem schwarzen Bevölkerungsanteil die rassische Demografie gleichblieb. Beobachtet nun aber die weiße Bevölkerungsmehrheit den Zuzug größerer Gruppen von Schwarzen, wird dies einen massenhaften Wegzug Weißer zu Folge haben. Diesen Zeitpunkt bezeichnete er als Tipping Point.[3]
Thomas Schelling entwickelte 1971 in seinem Segregationsmodell die Theorie des „Nachbarn rauskegeln“ (englisch neigborhood tipping). Tipping liegt danach vor, wenn eine wahrnehmbare Minderheit in der Nachbarschaft eine Größe erreicht, welche die Mehrheit der anderen Nachbarn zum Auszug veranlasst und sich damit die Zusammensetzung der Nachbarschaft verändert. „Der Punkt, an welchem im folgenden Jahr ein gesteigerter Anteil von Negern vorhanden ist, heißt Kipp-Punkt“ (englisch …exaggerated increase the following year in the proportion of negroes, then we have found the ‚tipping point‘ …).[4] Dieser schnelle Wandel in der Bevölkerungsstruktur ist Morton Godzins zufolge nur schwer wieder umkehrbar.[5]
In der Netzwerkökonomie gibt es unter anderem zwei Fachgebiete, die sich mit dem Tipping-Point auseinandersetzen.
Gladwell hat drei Faktoren identifiziert, die für die Ausbreitung einer Epidemie verantwortlich sind:
Nicht alle Mitglieder einer Gruppe haben den gleichen Einfluss. Vielmehr haben einzelne Mitglieder einen überproportional großen Einfluss, Veränderungen herbeizuführen.
Die Präsentation einer Botschaft hat einen großen Einfluss darauf, ob die Adressaten tatsächlich zum Handeln motiviert werden können. Hierbei können auch kleine Änderungen große Auswirkungen haben. Zum Beispiel floppte die Kindersendung „Sesamstraße“ bei ersten Pilotversuchen in den USA, wurde dann aber doch ein Erfolg. Das ursprüngliche Konzept wurde nur durch die Hinzufügung der Figur Bibo geändert.
Menschen sind in ihrem Handeln sehr stark von den Umgebungsbedingungen der jeweiligen Situation beeinflusst. Insofern sind die Ausbreitung von Epidemien und der Erfolg von Maßnahmen abhängig von der Situation der Adressaten. Ein Beispiel hierfür ist die Anwendung der Broken-Windows-Theorie durch New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani ab 1994. Die Polizei New Yorks konzentrierte sich auf die Bekämpfung scheinbarer Bagatellverbrechen, die aber die Lebensqualität der Einwohner New Yorks beeinträchtigten, um so Zeichen für „Null-Toleranz“ zu setzen. Die Politik Giulianis führte zu einem erheblichen Rückgang der Verbrechen in New York. Den potentiellen Verbrechern in New York wurde deutlich gemacht, dass „Null-Toleranz“ auch gegenüber kleinen Übertretungen herrschte, und diese Haltung wurde zum Tipping-Point in der Verbrechensstatistik New Yorks.[11]
In einem Interview im ZEIT-Magazin[12] weist Gladwell auf eine andere Theorie hin. Menschen mit Bleivergiftung werden demnach enthemmt.[13] „In den USA verschwand das Blei 1973 aus dem Benzin. Genau 18 Jahre später, als die damals Geborenen also in das Alter kamen, in dem man gemeinhin kriminell wird, beginnt der steile Abfall der Kriminalitätsrate in Großstädten.“[14] Steven Levitt[15] beschreibt die Studie von Lott und Whitley, die eine plausiblere Alternativerklärung aufzeigt, indem sie sich anhand statistischer Daten mehrerer Länder dem Thema nähert. Es ist also davon auszugehen, dass eine Vielzahl von Faktoren zu diesem Effekt beigetragen hat, lediglich die Inklusion all dieser in eine groß angelegte Studie könnte genauere Aufschlüsse auf Kausalitäten geben.
Bei der Marktbearbeitung müssen nicht alle potenziellen Güternachfrager von einem Produkt überzeugt werden. Es genügt vielmehr, wenn eine bestimmte Anzahl von Verbrauchern überzeugt ist; dann setzt sich das Produkt selbst tragend durch. Die Kenntnis vom Schwellenwert, an dem der Tipping-Point für Mitläufer oder Herdenverhalten erreicht wird, ist von großer Bedeutung für Preisbildung und Marketing.[16]
Der Übergang von der Analogkamera zur Digitalkamera wird als Tipping Point bezeichnet. Innerhalb von drei Jahren ist der Marktanteil der Digitalkameras beim Verkauf von 5 % auf 90 % gestiegen. Kurze Zeit später ist der Verkauf der Analogkameras fast auf Null gesunken.[17][18]
Der Übergang vom Röhrenmonitor zum Flachbildschirm ist ebenfalls ein Tipping Point. Innerhalb von drei Jahren ist der Marktanteil der Flachbildschirme von 5 % auf 90 % gestiegen. Kurz danach ist der Marktanteil von Röhrenmonitoren gegen Null gegangen.[17][18]
In der Wirtschaft wird das Phänomen Tipping Point als Element eines Führungsstils betrachtet. Man geht davon aus, dass Veränderungen in der Organisation nicht auf der Verwandlung der Masse beruhen. Vielmehr muss man sich auf Einzelne bzw. Extreme konzentrieren, welche einen asymmetrisch großen Einfluss auf die so genannte Performance haben und so rasch einen „Tipping Point“ zur Veränderung auslösen.
Aktuell wird dieser Begriff häufig im Zusammenhang mit Klimamodellen verwendet. Wissenschaftler vermuten, dass es Tipping Points in der Klimaentwicklung gibt (z. B. spontane, grundsätzliche Änderungen im globalen Wärmetransport durch veränderte Wasser- oder Luftströmungen), welche dramatische Klimaveränderungen in sehr kurzer Zeit bewirken. Zu diesen Kippelementen zählen etwa das Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds oder eine Veränderung des El-Niño-Phänomens.[19]
Das System Erde besitzt eine Vielzahl von aufeinander wirkenden Rückkopplungen. Dies führt dazu, dass eine graduelle Klimaveränderung gravierende Folgen haben kann. Diese können in Form von abrupten Klimawechseln das Klima auf regionaler oder globaler Ebene beeinflussen. Daneben existieren auch konkrete Kippelemente, die bei Überschreiten eines „Tipping-Point“ ihren Zustand rasch und meist schwer, zum Teil auch irreversibel ändern können.[20] Wenngleich die Existenz der Kippelemente als nahezu gesichert gilt, ist nur näherungsweise bekannt, zu welchem Zeitpunkt die Tipping-Points dieser Elemente wirksam werden. Forschungen zur Schmelzdynamik von Gletschern des Westantarktischen Eisschildes ergaben, dass dort der Tipping-Point für ihr Abschmelzen erreicht wurde. Allein die Masse des dortigen Pine-Island-Gletschers und weiterer Gletscher im Gebiet der Amundsen-See würde zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 1,2 m weltweit führen. Es ist zugleich ein Beispiel für einen unumkehrbaren Point of no Return, da sich das weitergehende Abschmelzen in den kommenden Jahrhunderten auch durch eine verringerte globale Erwärmung wahrscheinlich nicht mehr aufhalten ließe: Durch das bereits heute gemessene Aufschwimmen des Eisschelfs fehlt dem Inlandsgletscher ein Widerlager, er gleitet zunehmend ins Meer, wo die Temperatur wesentlich höher liegt als an Land.[21]
Die Zubereitung von Popcorn: Man gibt Öl in einen Topf, einige Millimeter hoch. Danach gibt man Maiskörner dazu, stellt den Topf auf den Herd und erhitzt ihn. Der Topf wird wärmer, aber es wird zuerst nichts passieren. Erst nach einigen Minuten, wenn das Öl die Temperatur von 163 °C erreicht hat, wird das erste Maiskorn aufplatzen. Das liegt daran, dass ein Maiskorn außen eine harte und stabile Hülle hat, innen mit weicher und wasserhaltiger Stärke gefüllt ist. Das Wasser im Inneren beginnt zu kochen und zu verdampfen, und es wird Druck aufgebaut, bis die Hülle dem Druck nicht mehr standhalten kann und platzt: Nach und nach werden die Maiskörner explodieren. Erst wenige, dann immer mehr (Tipping-Point) und immer schneller, bis die Temperatur von 169 Grad Celsius erreicht ist. Das hängt damit zusammen, dass nicht alle Maiskörner gleich groß sind, die Hüllen der Maiskörner nicht alle gleich dick sind usw. Aber in dem schmalen Bereich von 163 Grad Celsius bis 169 Grad Celsius werden fast alle platzen, und der Prozess ist nicht mehr umkehrbar.[17][18]
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