Quantifizierung

Quantifizierung

Version vom 11. April 2021, 19:39 Uhr von imported>MacOrcas (Leerzeichen vor/nach Bindestrich korrigiert)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Quantifizierung bedeutet Angabe als Zahlenwert und kommt von lateinisch quantum („wie viel“, „wie groß“). Dabei werden die Eigenschaften und Beschaffenheit eines Gegenstands oder Sachverhalts in messbare Größen und Zahlenwerte umformuliert.

Voraussetzung dafür ist die Definition einer quantifizierbaren Größe und die Angabe eines Quantifizierungsverfahrens. Eine Vergleichbarkeit entsteht durch die Anwendung desselben Verfahrens auf unterschiedliche Dinge oder Sachverhalte. Quantifizierung ermöglicht die Entwicklung und Verwendung differenzierter quantitativer Modelle eines Gebietes und damit bewusst gesteuertes, differenziert-zielgerichtetes Handeln – im Gegensatz zu intuitiv gesteuertem Handeln.

In Naturwissenschaft und Technik

In Naturwissenschaft und Technik erfolgt die Quantifizierung durch die geplante Tätigkeit einer Messung einschließlich der Berechnung aus gemessenen Werten. Das Teilgebiet dafür heißt Messtechnik.

Quantifizierbare Größen sind etwa Temperatur, Zeit, Winkel, Frequenz, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft, Druck, elektrische Spannung, Lichtstärke, Strahlendosis. Die Messung besteht in der Gewinnung eines Messwertes, – oft mittels Umformung in ein elektrisches Analog- oder Digitalsignal. Der eigentliche Messfühler heißt Sensor, das Teilgebiet für Sensoren also Sensorik.

Vertreter der klassischen Verhaltensbiologie entwickelten ein sogenanntes Prinzip der doppelten Quantifizierung im Rahmen der Instinkttheorie. Hierbei ging man davon aus, dass Intensität und Geschwindigkeit einer Instinkthandlung von der Qualität des Schlüsselreizes und der Stärke der Handlungsbereitschaft eines Tieres abhängen.

In Psychologie und Psychiatrie

Psychologische Prozesse sind vielfältig und komplex. Während gewisse Reaktionen in einem Reiz-Reaktions-Modell gut messbar sind, sind andere Prozesse wie Furcht und Träume quantitativ nur schwer zu erfassen. Quantifizierung dient der Externalisierung, Validierung und Verbesserung der Reliabilität. Selbstberichtsverfahren können der statistischen Auswertung dienen, etwa bei der Meinungsforschung.[1] Einzelne Autoren wie Hans Heinrich Wieck (1918–1980) haben sich – etwa zur Verbesserung der Diagnostik bei Funktionspsychosen – um die Quantifizierung von Befunden besonders verdient gemacht.[2] Einerseits sind also naturwissenschaftliche Methoden anzuwenden, andererseits sind nur metapsychologische über das konkret Erfahrbare hinausgehende begriffliche Annäherungen möglich.[3] Eine solche begriffliche Annäherung stellt der von Sigmund Freud (1856–1939) geprägte Begriff des Affektbetrags dar. Die Quantifizierung kommt auch in seiner Lehre von der Ökonomie zum Ausdruck. Testpsychologische Verfahren werden in der → experimentellen Diagnostik verwendet. Auf die → Grenzen der psychologisch-psychiatrischen Quantifizierung wird hier in einem weiteren Kap. eingegangen.

In Wirtschaft und Politik

In Bereichen der Wirtschaft und Politik geht es oft um Entscheidungsgrundlagen und Erfolgskontrolle, z. B. bei Innovationen. Dabei sind nach Hauschildt drei Vorgehensweisen bzw. Konzepte möglich:

  1. Qualitativer Ansatz, bei dem die Einschätzung des Erfolgs auf (subjektive) Urteile von befragten Personen (Manager, Kontrollpersonen, externe Experten) zurückgeführt wird;
  2. Quantitativer Ansatz, bei dem auf genaue Ergebnisdaten (erzielte Umsatzsteigerung, Gewinn usw.), sowie auf „nachvollziehbare Berechnungs-Algorithmen“, zurückgegriffen wird;
  3. Semi-quantitativer Ansatz, dessen Ausgangspunkt eine Vielzahl von Beobachtungs- und Befragungs-Items, die mittels Faktoren- oder Clusteranalysen auf wenige Typen verdichtet werden, darstellt. Typische Beispiele sind die Wahl oder die Meinungsumfrage.

Doch meistens ist eine Kombination dieser drei Ansätze notwendig, um eine Bewertung der sehr unterschiedlichen Wirkungen genau, detailliert und zugleich komplex vornehmen zu können. Dies ist z. B. ein Forschungsthema der Wirtschaftsinformatik.

In den Geisteswissenschaften

Geisteswissenschaften wie Quantitative Linguistik, Psychologie und Soziologie versuchen oft, Einstellungen und Verhalten von Individuen oder Gruppen über quantitative Modelle zu erfassen. Da menschliches Verhalten starken Variationen unterworfen ist, sind diese Modelle fast immer statistischer Natur und treffen Wahrscheinlichkeitsaussagen.

Im Sport

In zahlreichen Sportarten, wie etwa den leichtathletischen Disziplinen, dem Ski Alpin oder dem Schwimmsport, ist es möglich, eine Leistungsbewertung aufgrund von messbaren (physikalischen) Leistungsbeurteilungen vorzunehmen. Solche unterscheiden sich von schwieriger quantifizierbaren Sportarten, wie etwa dem Gerätturnen, dem Eiskunstlauf oder der Gymnastik, die das Problem beinhalten, dass bei der Bewertung ein gewisses Maß an subjektivem Ermessen bei den Juroren oder Wertungsrichtern hinzukommt.

In der experimentellen Diagnostik

In der Experimentalpsychologie geht es in weiten Teilen darum, qualitative Eigenschaften eines Verhaltens oder einer Leistung detaillierter fassbar, vergleichbar und möglichst objektiv bewertbar zu gestalten. Dazu bedient sich die Testpsychologie geeigneter Verfahren, die über eine Faktorenanalyse und Quantifizierung das zunächst nur einer subjektiven Beobachtung und daraus erwachsenden Bewertung zugänglich erscheinende Ausgangsmaterial einer möglichst objektiven Analyse und statistischen Auswertung zuzuführen. Das bedeutet, dass die Eigenschaften in Zahlenwerte, Qualitäten in Quantitäten transferiert werden müssen.

So zerlegt beispielsweise der Wiener Koordinationsparcours das sehr komplexe Fähigkeitsspektrum der Koordinativen Fähigkeiten mittels einer Faktorenanalyse zunächst in ihre wichtigsten Komponenten. Diese werden anschließend in einer sogenannten Testbatterie miteinander verbunden, über spezifische Aufgabenstellungen provoziert und unter dem Gesichtspunkt, dass sich die Anforderungen an das Koordinationsvermögen mit der Schnelligkeit der geforderten Bewegungsabläufe graduell erhöhen, über den Korridor der Zeitmessung in Zahlenwerte umgesetzt.[4][5] Aus den Rohscores erwachsende, in Zahlen dargestellte Normentafeln ermöglichen in der Folge eine vergleichende Analyse und Bewertung der Testleistungen.[6]

In ähnlicher Weise verfährt die Psychologische Diagnostik methodisch mit dem Phänomen der Intelligenz. Sie isoliert zunächst die als relevant eingestuften Faktoren, um sie anschließend über darauf zugeschnittene Aufgabenstellungen in Subtests einer Batterie leistungsmäßig erkennbar zu machen. Vorreiter dieser Strategie waren etwa Alfred Binet, der als Begründer der Psychometrie gilt, Charles Spearman, dem wesentliche Impulse zur Entwicklung der Klassischen Testtheorie zu verdanken sind oder John C. Raven, der mit seinen Matrizentests bahnbrechende Forschungsarbeit zur Umsetzung und Auswertung beigetragen hat.[7][8]

Beispiele für Quantifizierung

Schule

Schulische Zeugnisnoten sind ein Musterbeispiel für die Suche nach möglichst objektiven Bewertungskriterien. Sie sind Messzahlen, die statt sprachlich formulierter Beurteilungen das Können bzw. die Lernfähigkeit von Schülern bzw. Kursteilnehmern darstellen sollen.

Neben dem Zweck zu motivieren macht die Zeugnisnote die Leistung der Schüler bzw. Auszubildenden vergleichbar, aber auch von Lehrern oder Schulen. Hier werden gleichzeitig die Probleme mit der Quantifizierung deutlich: Ihre Restunsicherheit und die Begrenztheit quantitativer Modelle (die Charakterisierung eines Menschen durch einige Zahlen) werden ihm nie gänzlich gerecht.

Ökonomie

Die Ökonomie ermittelt statistische Zahlen zur Kaufkraft oder zum Lebensstandard einer Region, eines Volkes oder einzelner Gruppen (sogenannte Primärdaten). Diese lassen sich relativ leicht erheben, sagen aber wenig z. B. über die Lebensqualität der einzelnen Bürger aus. Um diese zu quantifizieren, müsste eine Berechnungsvorschrift angegeben werden, in der naturgemäß viel Raum für subjektive Bewertungen ist. Eine solche gibt es etwa im Rahmen von Produkt- und Konsumforschung. Interessanter ist oft auch die Streuung der Daten, also z. B. die Standardabweichung vom Mittelwert.

Eine sinnvollere Quantifizierung ist daher oft der Übergang von primären Daten zu Sekundärdaten – z. B. die Aggregation von Ergebnissen einzelner Zählbezirke zu Mittelwerten und anschließender Varianzanalyse.

Grenzen der Quantifizierung

Bei den Leistungseinschätzungen (Zensuren) von Schülern, Studenten, Lehrlingen oder Rekruten werden die sogenannten „Verbalnoten“ zu Statusberechnungen und genaueren Vergleichen gern auch in „Ziffernnoten“ umgesetzt. So kann eine „2“ etwa die Bewertung „gut“ oder eine „3“ die Bewertung „befriedigend“ repräsentieren. Soweit es dabei bleibt, scheint dies vertretbar. Problematisch wird die Quantifizierung, wenn die Ausgangsbeurteilungen in Verkennung ihrer Eigenart als nur sehr grobe Schätzwerte „übermathematisiert“ werden, in der Form, dass sie in Dezimalen zerlegt und so mit ihnen weitergerechnet und damit formal eine Genauigkeit der Aussage und des Leistungsvergleichs suggeriert wird, die das Ausgangsmaterial nicht hergibt. Die Auswertung kann nicht differenziertere Aussagen treffen als sie das Ausgangsmaterial (die Rohscores) bereitstellt.[9] Die Gefahr einer Übermathematisierung und damit gegebenen Fehleinschätzung von Schätzwerten kann dadurch minimiert werden, dass schon das Ausgangsmaterial zahlenmäßig strukturiert wird, also z. B. eine intellektuelle Leistung in Punktwerten, eine Schießleistung über die Zahl der Ringe, eine Schnelligkeitsleistung über die Zeit- oder Frequenzmessung, eine Wurfleistung durch die Streckenmessung erfasst wird. Hierbei bleiben allerdings die qualitativen Merkmale, etwa die Ästhetik des Laufs oder Sprungs, unberücksichtigt. Sie gehen, wie etwa beim Skispringen, in eine punktemäßige Kombinationswertung von messbarer Weite und beurteilter Haltung und Landung ein. Die Genauigkeit der numerischen Auswertung muss mit einer entsprechenden Präzision und Differenzierung der Ausgangsdaten korrespondieren und darf diese nicht überinterpretieren.[10][11]

Literatur

  • Gustav A. Lienert, Ulrich Raatz: Testaufbau und Testanalyse. 6. Auflage. Beltz, Weinheim 2011, ISBN 978-3-621-27424-1.
  • Udo Rauchfleisch: Testpsychologie. Eine Einführung in die Psychodiagnostik (= UTB. 1063). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 978-3-525-03502-3.
  • Siegbert Warwitz: Die Quantifizierung qualitativer Variablen, In: Ders.: Das sportwissenschaftliche Experiment. Planung-Durchführung-Auswertung-Deutung. Verlag Hofmann, Schorndorf 1976, S. 11–16, DNB 740560026, ISBN 3-7780-4551-2.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Philip G. Zimbardo, Richard J. Gerrig: Psychologie. Pearson, Hallbergmoos bei München 2008, ISBN 978-3-8273-7275-8; S. 39 f. zu Stw. „Quantifizierung“.
  2. Hans Heinrich Wieck, K. Stäcker: Zur Dynamik des »amnestischen« Durchgangs-Syndroms. Arch. Psychiat. Nervenkr. 206: 479–512 (1964).
  3. Uwe Henrik Peters: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. 3. Auflage, Urban & Schwarzenberg, München 1984; S. 349 f. zu Wb.-Lemma: „Metapsychologie“.
  4. Warwitz, Siegbert: Der Wiener Koordinationsparcours, In: Ders.: Das sportwissenschaftliche Experiment. Planung-Durchführung-Auswertung-Deutung. Verlag Hofmann, Schorndorf 1976, S. 48–62
  5. Bös, Klaus: Der Wiener Koordinationsparcours von Warwitz. In: Ders.: Handbuch sportmotorischer Tests. 2. Auflage, Göttingen 2001, S. 361–364
  6. Schirach Norbert: Die Erstellung von Normentabellen zu einer sportmotorischen Testbatterie (Wiener Koordinationsparcours), Wiss. Staatsexamensarbeit, Karlsruhe 1979
  7. Groffmann K.J.: Die Entwicklung der Intelligenzmessung. In: R. Heiss (Hrsg.): Psychologische Diagnostik (= Handbuch der Psychologie. Band 6), C. J. Hogrefe, Göttingen 1964, S. 148–199
  8. Gustav A. Lienert, Ulrich Raatz: Testaufbau und Testanalyse. 6. Auflage. Beltz, Weinheim 2011
  9. Siegbert Warwitz: Die Quantifizierung qualitativer Variablen, In: Ders.: Das sportwissenschaftliche Experiment. Planung-Durchführung-Auswertung-Deutung. Verlag Hofmann, Schorndorf 1976, S. 11–16
  10. ebenda S. 12
  11. Gustav A. Lienert, Ulrich Raatz: Testaufbau und Testanalyse. 6. Auflage. Beltz, Weinheim 2011, S. 8

Weblinks

Wiktionary: Quantifizierung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

News mit dem Thema Quantifizierung