Die bellsche Ungleichung wurde 1964 von John Bell für die Korrelationen zwischen Messergebnissen von Beobachtungsgrößen (Observablen) angegeben. Sie ist für lokale klassische Theorien erfüllt, sogenannte Theorien verborgener Variablen auf dem Gebiet der Interpretationen der Quantenmechanik, aber in der Quantenmechanik im Allgemeinen nicht mehr erfüllt. In Experimenten wurde gezeigt, dass sie verletzt wird, was als Bestätigung der Quantenmechanik gilt.
Die bellsche Ungleichung zeigt insbesondere, dass aus der Gültigkeit bestimmter grundlegender Annahmen der Quantenmechanik ein Widerspruch mit gleichzeitigem Vorhandensein von Realismus und Lokalität folgt:[1]
Die Verwendung der Begriffe in der Analyse der Interpretation der Quantenmechanik stammt aus dem Aufsatz zum Gedankenexperiment von Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen (Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon).
„Klassische“ Theorien wie die newtonsche Mechanik oder die maxwellsche Elektrodynamik besitzen beide dieser Eigenschaften. Die bellsche Ungleichung ist damit in besonderer Weise dazu geeignet, um eine Gegenüberstellung oder einen Vergleich der Eigenschaften von Quantenmechanik und klassischer Physik durchzuführen.
Die Quantenmechanik ist keine realistische lokale Theorie. Die in der Quantenmechanik berechneten Mittelwerte verletzen die bellsche Ungleichung. Daher kann die Quantenmechanik – im Gegensatz zu einer Annahme Albert Einsteins – nicht durch Hinzufügen von verborgenen Variablen zu einer realistischen und lokalen Theorie vervollständigt werden.
Bei verschränkten Photonenpaaren ist die Verletzung der bellschen Ungleichung gemessen worden. Ihre Polarisationseigenschaften stimmen mit der Quantenmechanik überein und sind nicht mit der Annahme von Realität und Lokalität verträglich. Dies bedeutet, dass nicht alle Messwerte vor der Messung feststehen oder dass die Messwerte nichtlokal von weit entfernten, unvorhersehbaren Entscheidungen abhängen oder dass man nicht beliebig wählen kann, welche Eigenschaft des Systems gemessen werden soll.
Wir betrachten Polarisationsmessungen an Paaren von Photonen, die von einer Quelle in entgegengesetzte Richtungen emittiert werden und an zwei Orten getrennt gemessen werden, wie oben erläutert innerhalb einer realistischen, lokalen Theorie.
Polarisationsfilter polarisieren Photonen in einer zur Ausbreitungsrichtung senkrechten Richtung $ \mathbf {a} \,. $ Sie lassen Photonen, die in Richtung $ \mathbf {a} $ polarisiert sind, ungehindert durch und absorbieren mit Sicherheit Photonen, deren Polarisationsrichtung senkrecht zu $ \mathbf {a} $ steht. Dabei ist $ \mathbf {a} $ ein Einheitsvektor in der Ebene senkrecht zur Ausbreitungsrichtung des Photons.
Dreht man den Filter in seiner Ebene, so erhält man einen Filter, der in gedrehter Richtung $ \mathbf {b} $ polarisiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Photon, das in Richtung $ \mathbf {a} $ polarisiert ist, ungehindert durch einen Filter geht, der in Richtung $ \mathbf {b} $ polarisiert, beträgt nach dem Gesetz von Malus
Mit der Wahrscheinlichkeit $ \,1-\cos ^{2}\theta _{ab}=\sin ^{2}\theta _{ab} $ wird es demnach absorbiert. $ \,\theta _{ab} $ ist dabei der von $ \mathbf {a} $ und $ \mathbf {b} $ eingeschlossene Winkel.
Die Polarisation der untersuchten Photonenpaare ist wegen ihrer Herkunft nicht unabhängig, sondern verschränkt. Stimmen die Richtungen der Polarisationsfilter an beiden Messorten überein, so wird das eine Photon genau dann absorbiert, wenn auch das andere Photon absorbiert wird.
Bei Polarisationsmessungen an Photonen fordert die Realitätsannahme, dass bei allen Messungen und für alle Richtungen eindeutig feststeht, ob das Photon absorbiert wird, auch wenn in jedem Einzelfall der Polarisationsfilter nur in einer Richtung messen kann.
Bei den Messungen wird vorausgesetzt, dass die Richtung beider Polarisationsfilter beliebig gewählt werden kann. Welche Richtung des Polarisationsfilters gewählt wird, soll also nicht vom jeweiligen Photonenpaar abhängen.
Lokalität bedeutet, dass sich die Richtung des einen Polarisationsfilters nicht auf das Absorptionsverhalten des Photons am anderen Filter auswirkt. Dies stellt man dadurch sicher, dass die Richtungen erst so spät zufällig gewählt werden, dass man von dieser Wahl selbst mit lichtschnellen Signalen bei der anderen Messung noch nichts wissen kann.
Man kann sich nun eine Reihe von wiederholten Messungen an Photonenpaaren vorstellen und diese fortlaufend mit $ \,i=1,2,\ldots ,N $ durchnummerieren. Wenn bei der $ i $-ten Messung der eine Filter in Richtung $ \mathbf {a} $ polarisiert und das erste Photon des Photonenpaares durchkommt, schreibt man dieses Ergebnis als $ \,a_{1i}=1 $ auf. Wird dieses erste Photon absorbiert, setzt man $ \,a_{1i}=-1 $. Mit $ \,b_{1i} $ bezeichnet man das Ergebnis, das sich bei der Messung Nummer $ i $ ergäbe, wenn am ersten Photon des Paares die Polarisation in Richtung $ \mathbf {b} $ gemessen würde, mit $ \,b_{2i} $ das entsprechende Ergebnis, wenn am zweiten Photon des Paares die Polarisation in Richtung $ \mathbf {b} $ gemessen würde. Entsprechend notiert man $ \,c_{2i}=1 $ oder $ \,c_{2i}=-1 $, je nachdem ob das zweite Photon des Paares im Versuch mit der Nummer $ i $ durch den zweiten, in Richtung $ \mathbf {c} $ polarisierten Filter kommt oder nicht.
Da die Ergebnisse $ \,a_{1i} $, $ \,b_{2i} $ und $ \,c_{2i} $ nur die Werte 1 oder -1 haben können, gelten in allen Fällen die Ungleichungen
Denn entweder ist $ \,b_{2i}=c_{2i} $, dann sind beide Seiten gleich 0, oder es gilt $ \,b_{2i}=-c_{2i} $, dann hat die rechte Seite den Wert 2 und die linke Seite den Wert 2 oder −2.
Da bei gleicher Richtung beider Filter das eine Photon genau dann absorbiert wird, wenn auch das andere Photon absorbiert wird, gilt in allen Fällen
In die Ungleichungen eingesetzt, ergibt sich
Der Mittelwert $ \langle a_{1}\,b_{2}\rangle $ der Produkte der Messergebnisse ist die Summe der Produkte $ a_{1i}\,b_{2i} $, geteilt durch die Anzahl der Versuche,
Entsprechend erhält man die Mittelwerte der Messergebnisse $ \langle a_{1}\,c_{2}\rangle $ und $ \langle b_{1}\,c_{2}\rangle $.
Summiert man die Ungleichungen und teilt man das Ergebnis durch die Anzahl der Versuche, so erhält man die bellsche Ungleichung[2] für Mittelwerte von Produkten von Polarisationswerten
Bei der Herleitung der bellschen Ungleichung wurde vorausgesetzt, dass in jedem Versuch die Ergebnisse der Polarisationsmessungen in den drei Richtungen von $ \mathbf {a} ,\,\,\mathbf {b} $ und $ \mathbf {c} $ festliegen, obwohl tatsächlich nur in jeweils einer Richtung gemessen werden kann. Es wurde ferner davon ausgegangen, dass die Ergebnisse bei einem Photon nicht davon abhängen, in welcher Richtung am anderen Photon gemessen wird. Die Ergebnisse $ a_{1i} $ am ersten Photon sollen also nicht von der Richtung des zweiten Filters also $ a_{2i} $ oder $ b_{2i} $ oder $ c_{2i} $ abhängen. Schließlich wurde vorausgesetzt, dass der Mittelwert über alle gedachten Versuchsergebnisse mit dem Mittelwert über alle tatsächlich ausgeführten Versuche übereinstimmt und dass keine Eigenschaft des Photonenpaares die zufällige Wahl der Messrichtungen beeinträchtigt.
In der Quantenmechanik ergibt sich für den Mittelwert der Polarisationsmessungen
Dies folgt aus:
Es ist aber die Linearkombination der Mittelwerte, wie sie in der bellschen Ungleichung vorkommt,
nicht für alle Richtungen kleiner als 1. Wählt man beispielsweise $ \mathbf {b} $ als Winkelhalbierende zwischen $ \mathbf {a} $ und $ \mathbf {c} \,, $ die 60 Grad einschließen,
so ergibt sich für die Linearkombination der quantenmechanischen Mittelwerte
in deutlichem Widerspruch zur bellschen Ungleichung für lokale, realistische Theorien.
Die quantenmechanischen Wahrscheinlichkeiten können also – im Gegensatz zur Annahme Albert Einsteins – nicht von einer vollständigeren, lokalen Theorie infolge der Unkenntnis verborgener Parameter herrühren, die den Ausgang jeder denkbaren Messung festlegen. Der Grund für die Abweichung in der Korrelationsabschätzung liegt darin begründet, dass in der bellschen Ungleichung vier unabhängige (lokale) Elemente drei Korrelationen ausbilden wohingegen in der Quantenmechanik drei unabhängige (nichtlokale) Wellenfunktionen drei Korrelationen ausbilden.
Um die Verletzung der bellschen Ungleichung überzeugend nachzuweisen, muss das Experiment folgende Anforderungen erfüllen:
Seit Ende der 1960er-Jahre wurden viele Experimente durchgeführt, um die Verletzung einer bellschen Ungleichung nachzuweisen:
Das Resultat des jeweiligen Experiments – dass die bellsche Ungleichung verletzt ist – zeigt explizit, dass die relevante Physik, die der beteiligten Quantenphänomene, nichtklassisch ist.
Neue Experimente, über die im Februar 2016 im Physik-Journal berichtet wird [8] lassen „Schlupfloch-Interpretationen“ mit ihren extrem kleinen p-Werten keine Berechtigung mehr.
Man kann die Quantenmechanik nicht einfach als falsch abtun. Sie stimmt mit den experimentellen Befunden überein.
Man kann stattdessen Einsteins Postulate, insbesondere die Vorstellung verborgener Variablen, aufgeben und hinnehmen, dass die Wellenfunktion nur die Wahrscheinlichkeit der Messwerte festlegt, nicht aber, welcher Messwert in jedem Einzelfall auftritt. Dies ist die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, die unter Physikern vorherrscht. So aufgefasst ist die Quantenmechanik nicht-real, im Gegensatz zu den Vorstellungen von Einstein, Podolski und Rosen (siehe Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon), weil eine Messung nicht einfach eine Eigenschaft abliest, sondern feststellt (präziser: herstellt), was zuvor nicht feststand. Zudem ist die Quantenmechanik auch nicht-lokal, weil sich der quantenmechanische Zustand des Photonenpaares über beide Messplätze erstreckt.
In ihrer Kopenhagener Deutung genügt die Quantenmechanik also nicht Einsteins Forderungen an eine vollständige, reale und lokale Beschreibung der Physik. Dies hatte Einstein erkannt und bemängelt. Aber er irrte in der Annahme, die Quantenmechanik könne durch Hinzufügen verborgener Variablen real und lokal werden.
Man kann die Lokalität aufgeben und an der Realität festhalten, wie beispielsweise in der bohmschen Mechanik. Bohm deutet die Wellenfunktion als nicht-lokales Führungsfeld klassischer Teilchen. Ob diese Deutung zu physikalischen Einsichten führt, ist unter Physikern strittig.
Die CHSH-Ungleichung (1969 von John Clauser, Michael Horne, Abner Shimony und Richard Holt entwickelt[9]) verallgemeinert die bellsche Ungleichung auf beliebige Observable. Sie ist experimentell einfacher zu überprüfen.
D. M. Greenberger, M. A. Horne und A. Zeilinger beschrieben 1989 einen Versuchsaufbau, das GHZ-Experiment mit drei Beobachtern und drei Elektronen, um mit einer einzigen Gruppe von Messungen die Quantenmechanik von einer quasi-klassischen Theorie mit verborgenen Variablen zu unterscheiden.[10]
Hardy untersuchte 1993 eine Situation, mit der theoretisch Nicht-Lokalität gezeigt werden kann.
Die Experimente zur Verletzung der bellschen Ungleichung lassen offen, ob (wie in der Kopenhagener Interpretation) neben der Annahme der Lokalität auch die Annahme einer „objektiven Realität“ aufgegeben werden muss. Leggett formulierte 2003 eine Ungleichung, die unabhängig von der Annahme der Lokalität gilt und die Annahme objektiver Realität zu überprüfen erlauben soll.[11] Aktuelle Experimente von Gröblacher et al. deuten darauf hin, dass die Leggettsche Ungleichung verletzt wird.[12] Die Deutung der Ergebnisse ist jedoch strittig.[13][14][15]
2001 veröffentlichten Karl Hess und der Mathematiker Walter Philipp Aufsätze, in denen sie auf ein mögliches Schlupfloch im bellschen Theorem hinwiesen.[16] Ihr Argument und ihr Modell ist von Zeilinger und anderen kritisiert worden.[17]