Ein Mehrkörpersystem (MKS) ist ein mechanisches System von Einzelkörpern, die untereinander durch Gelenke oder Kraftelemente (z. B. Federn, Dämpfer) gekoppelt sind und unter dem Einfluss von Kräften stehen. Mit Hilfe der Kinematik, eines Teilgebiets der Mechanik, wird die Bewegung der Körper mathematisch formuliert. Obwohl ein Mehrkörpersystem auch unbeweglich sein kann, beschreibt man mit dem Begriff üblicherweise ein System, dessen Teile sich gegeneinander bewegen können. Die Untersuchung der Bewegung (Dynamik) eines Mehrkörpersystems wird Mehrkörperdynamik genannt.
In diesem Artikel wird ein Überblick über einige wichtige Aspekte von Mehrkörpersystemen gegeben. Allerdings haben sich Ende der 1990er Jahre viele neuere Teilgebiete entwickelt (Optimierung, Sensitivitätsanalyse, Robotik, Regelung, Automobile und Schienenfahrzeuge, u. a.), die nicht in diesem Artikel Platz gefunden haben.
Mehrkörpersysteme werden zur Modellierung der Bewegung von (Teil-)Körpern in technischen Anwendungen eingesetzt:
Die nachfolgende Abbildung zeigt ein typisches Beispiel eines Mehrkörpersystems. Dieses System wird auch Kurbeltrieb (englisch slider-crank) genannt. In diesem Beispiel wird ein Starrkörper für die angetriebene Kurbel verwendet, der ein drehbar gelagertes Pleuel antreibt und schließlich die Endmasse (konzentrierte Masse) bewegt. Die Endmasse kann sich nur innerhalb der Führung bewegen. Es sind 3 Drehgelenke eingebaut, eines zwischen Kurbel und Inertialsystem, eines zwischen Kurbel und Pleuel und eines zwischen Pleuel und Endmasse.
Unter einem Körper versteht man einen festen oder flexiblen Körper im mechanischen Sinne (also nicht mit dem mathematischen Körper oder menschlichen Körper zu verwechseln). Ein Körper ist hier beispielsweise ein Arm eines Roboters, das Lenkrad eines Autos, aber auch der Unterarm eines Menschen. Gelenke bilden bewegliche Verbindungen zwischen Körpern. Man kann sich z. B. anhand eines Gelenks im menschlichen Körper oder am Beispiel eines Gelenkes in einer Maschine oder auch in einem Auto vorstellen.
In der Mehrkörperdynamik sind zwei weitere Begriffe von zentraler Bedeutung: Freiheitsgrad und Zwangsbedingung.
Im Sinne eines mechanischen Körpers stellt die Anzahl der Freiheitsgrade die Zahl der voneinander unabhängigen Bewegungsmöglichkeiten dar. Ein starrer Körper besitzt 6 Freiheitsgrade bei allgemeiner räumlicher Bewegung, davon 3 Translationsfreiheitsgrade und 3 Rotationsfreiheitsgrade. Betrachtet man nur die Bewegung eines Körpers (und aller seiner Punkte) in einer Ebene, so hat dieser Körper nur noch 3 Freiheitsgrade: 2 Translationsfreiheitsgrade und einen Rotationsfreiheitsgrad.
Beim Betrachten eines Körpers im Raum, z. B. der Computermaus, kann man die drei Translationsfreiheitsgrade einfach durch die Bewegungen links-rechts, vor-zurück, auf-ab darstellen. Die drei Freiheitsgrade der Rotation des Körpers (der Computermaus) werden durch Rotation um die Achsen, entlang derer die Translation verläuft (z. B. um die Längsachse der Maus bei der Translation Vor-Zurück), beschrieben.
Zwangsbedingungen stellen eine Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten von Körpern dar. Zwänge können sowohl zwischen zwei Körpern als auch zwischen einem Körper und einem Fixpunkt im Raum aufgebracht werden. Entgegen der Annahme im Link "Zwangsbedingungen" können nicht nur Massenpunkte einem Zwang unterliegen. Eine Zwangsbedingung kann in einem Mehrkörpersystem auch auf Verdrehungen, Geschwindigkeiten (auch Winkelgeschwindigkeiten) und Beschleunigungen angewandt werden.
Die Bewegung des Mehrkörpersystems wird mit den Bewegungsgleichungen beschrieben, welche aus dem 2. Newtonschen Axiom und den zusätzlichen Zwangsbedingungen resultieren.
Die Bewegung eines Starrkörpersystemes lässt sich folgendermaßen ausdrücken:
Diese Formulierung wird auch mit dem Begriff redundante Koordinaten bezeichnet. Hierbei stellen generalisierten Koordinaten $ \mathbf {q} $ die Freiheitsgrade der nicht unter Zwang stehenden Körper dar, $ \mathbf {M} (\mathbf {q} ) $ ist die Massenmatrix, welche von den generalisierten Koordinaten abhängen kann, $ \mathbf {C} $ beschreibt die Zwangsbedingungen und $ \mathbf {C_{\mathrm {q} }} $ ist die Ableitung der Zwangsbedingungen nach den generalisierten Koordinaten. Das Symbol $ \mathbf {\lambda } $ bezeichnet in dieser Formulierung der Bewegungsgleichungen die Lagrange'schen Multiplikatoren. Geht man von einem einzigen Körper aus, so kann man die generalisierten Koordinaten aufteilen in
wobei $ \mathbf {u} $ die Translationen beschreibt, und $ \mathbf {\Psi } $ die Rotationen beschreibt.
Der Ausdruck $ \mathbf {Q} _{\mathrm {v} } $ stellt den quadratischen Geschwindigkeitsvektor dar, welcher sich zufolge der Ableitung der Gleichungen von der kinetischen Energie ergibt. Dieser Term hängt von den gewählten Rotationsparametern ab.
Die Lagrange'schen Multiplikatoren $ \lambda _{\mathrm {i} } $ sind je einer Zwangsbedingung $ C_{\mathrm {i} }=0 $ zugeordnet und stellen zumeist Kräfte oder Momente dar, welche in Richtung des gesperrten Freiheitsgrades wirken, allerdings keine Arbeit leisten.
Gelenke werden in der allgemeinsten Beschreibungssprache für Mehrkörpersysteme mittels Zwangsbedingungen ausgedrückt. Wie bereits erwähnt, können Zwangsbedingungen sowohl für Verschiebungen und Verdrehungen als auch für die zeitlichen Ableitungen dieser Größen verwendet werden.
Man unterscheidet vorerst holonome und nicht-holonome Zwangsbedingungen, eine genauere Beschreibung wird im Abschnitt Zwangsbedingung gegeben. Für Mehrkörpersysteme ist es wichtig, dass übliche Gelenke wie zylindrisches Gelenk, Kugelgelenk, prismatisches Gelenk, etc. unter holonome Zwangsbedingungen fallen.
Die Bewegungsgleichungen werden mit redundanten Koordinaten beschrieben, welche aufgrund der Zwänge nicht voneinander unabhängig sind. Es ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich, dass man diese Formulierung in ein System mit nicht-redundanten, also voneinander unabhängigen Koordinaten und ohne Zwangsbedingungen, überschreibt. Diese Transformation ist grundsätzlich nicht möglich wenn die verbundenen Körper einen geschlossenen Ring (Schleife) aufweisen oder wenn es sich nicht um einfache holonome Gelenke handelt. Dennoch kann man auf ein System mit der kleinstmöglichen Anzahl von Koordinaten übergehen, indem man Zwänge nur an bestimmten unvermeidbaren Stellen einfügt und an den übrigen Stellen nicht-redundante Koordinaten verwendet. Eine mögliche Art der Formulierung mit Minimalen Koordinaten ist die sogenannte rekursive Formulierung.