Atomarer Wasserstoff als archäologischer Nachweis für die Geschichte der Milchstraße

Atomarer Wasserstoff als archäologischer Nachweis für die Geschichte der Milchstraße



Physik-News vom 21.10.2020

Eine Gruppe von Astronomen unter der Leitung von Juan Soler vom MPIA hat ein komplexes Netzwerk aus Filamenten aus atomarem Wasserstoffgas gefunden, das die Milchstraße durchdringt. Durch die Anwendung von Techniken der maschinellen Bildverarbeitung auf Daten der THOR-Durchmusterung machten sie dieses Geflecht aus Gas sichtbar, das den bisher detailliertesten Blick auf die Verteilung von atomarem Wasserstoff in der inneren Milchstraße bietet. Durch statistische Methoden und Simulationen zeigten sie, dass die Struktur einen Abdruck historischer Prozesse bewahrt hat, die durch die Rotation der galaktischen Scheibe und durch Einflüsse von alten Supernova-Explosionen hervorgerufen wurden.

Wasserstoff ist der wichtigste Rohstoff zur Bildung neuer Sterne. Doch obwohl es das am häufigsten vorkommende chemische Element im Universum ist, ist die Frage noch offen, wie sich dieses Gas zu Wolken zusammensetzt, aus denen schließlich Sterne entstehen. Eine Zusammenarbeit von Astronomen unter der Leitung von Juan Diego Soler vom Max-Planck-Institut für Astronomie (MPIA) in Heidelberg hat nun einen wichtigen Schritt zur Beantwortung dieser Frage gemacht.


Unsere Heimatgalaxie hat eine Geschichte

Publikation:


J. D. Soler, H. Beuther, J. Syed, Y. Wang et al.
The history of dynamics and stellar feedback revealed by the HI filamentary structure in the disk of the Milky Way
Astronomy & Astrophysics (2020)

DOI: 10.1051/0004-6361/202038882



Soler verarbeitete Daten der vom MPIA geleiteten THOR-Durchmusterung (THOR: The HI/OH/recombination line survey), die aus Beobachtungen mit dem Karl G. Jansky Very Large Array (VLA)-Radiointerferometer in New Mexico, USA, stammen. Die Untersuchung ermöglicht die Erstellung von Karten der Gasverteilung in der inneren Region der Milchstraße mit der bisher höchsten räumlichen Auflösung. „Die neueste Ergänzung des THOR-Datensatzes ist unsere Data Release 2, die den neutralen atomaren Wasserstoff mit einer Winkelauflösung von 40 Bogensekunden erfasst“, erklärt Henrik Beuther, der das THOR-Projekt am MPIA leitet.


Atomare Wasserstoffemission eines Ausschnitts aus der THOR-Durchmusterung (oben) und zugehörige fadenförmige Strukturen um das Magdalena-Filament (unten).

„Wir haben die berühmte Spektrallinie des Wasserstoffs bei einer Wellenlänge von 21 cm verwendet“, erklärt Yuan Wang, der für die Verarbeitung der Daten verantwortlich war. „Diese Daten liefern gleichzeitig die Gasgeschwindigkeit in der Beobachtungsrichtung. Kombiniert mit einem Modell, das beschreibt, wie sich das Gas in der Milchstraßenscheibe um ihr Zentrum dreht, können wir sogar Distanzen ableiten“, fügt Wang über eine der entscheidenden Methoden hinzu, die Astronomen zur Bestimmung der allgemeinen Struktur der Milchstraße verwenden. Die beispiellose Auflösung der THOR-Beobachtungen ermöglichte jedoch völlig neue Studien.

Um die Verteilung des atomaren Wasserstoffgases besser zu ermitteln, wandte Soler einen mathematischen Algorithmus an, der häufig in Anwendungen wie Texterkennung und Satellitenbildanalyse eingesetzt wird. Dies führte zur Entdeckung eines ausgedehnten und komplizierten Netzwerks von Filamenten aus Wasserstoff. Das Astronomenteam fand heraus, dass die meisten von ihnen parallel zur Scheibe der Milchstraße verlaufen, einschließlich einer 3000 Lichtjahre langen Wasserstoff-Spur, die Soler zu Ehren des längsten Flusses in Kolumbien, seinem Geburtsland, Magdalena nannte. „Maggie [Magdalena] könnte das größte bekannte zusammenhängende Objekt in der Milchstraße sein. In den letzten Jahren haben Astronomen viele molekulare Filamente untersucht, aber Maggie scheint rein atomar zu sein. Aufgrund ihrer günstigen Position in der Milchstraße konnten wir sie ausfindig machen“, bemerkt Jonas Syed, Doktorand am MPIA, der ebenfalls zum THOR-Team gehört. Es war jedoch eine Ansammlung von vertikalen Filamenten, die die besondere Aufmerksamkeit der Forscher auf sich zog.

„Wie bei dem sich drehenden Pizzateig erwarteten wir, dass die meisten Filamente parallel zur Ebene liegen und durch die Rotation gedehnt werden. Aber als wir viele vertikale Filamente um Regionen fanden, die für ihre hohe Sternentstehungsaktivität bekannt sind, wussten wir, dass wir auf der richtigen Spur waren. Irgendein Prozess muss Material von der galaktischen Ebene weggeblasen haben“, erklärt Soler. Massereiche Sterne, also Sterne mit mehr als der achtfachen Masse der Sonne, tragen durch Winde, ionisierende Strahlung und, am Ende ihres Lebens, durch Supernova-Explosionen große Energiemengen in ihre Umgebung ein.

In der Vergangenheit haben Astronomen die Beobachtungen des atomaren Wasserstoffs genutzt, um die Hüllen um Supernova-Explosionen zu identifizieren, die bis zu ein paar Millionen Jahre alt sind. Die Schockwellen dieser Explosionen führen dazu, dass sich das diffuse und allgegenwärtige Wasserstoffgas in dichteren Wolken anhäuft, von denen die Wissenschaftler annehmen, dass sie die ersten Schritte im Prozess der Sternentstehung sind. Doch dieser Fall ist anders. Da die meisten der vertikalen Fäden des atomaren Wasserstoffs in Regionen mit einer langen Geschichte von Sternentstehung konzentriert erscheinen, in denen mehrere Generationen von Sternen und Supernova-Explosionen ihre Umgebung geformt haben, brachten die Forscher sie mit Ereignissen in Verbindung, die den bereits bekannten Hüllen vorausgingen.

„Höchstwahrscheinlich handelt es sich um die Überreste vieler älterer Hüllen, die aufplatzten, als sie den Rand der galaktischen Scheibe erreichten, sich über Millionen von Jahren angesammelt haben und dank der Magnetfelder zusammengehalten wurden“, erläutert Soler. Das Team gelangte zu dieser Schlussfolgerung durch den Einsatz moderner numerischer Simulationen der Dynamik von Supernova-Explosionen, Magnetfeldern und galaktischen Strömungen, die von einer Forschungsgruppe unter der Leitung von Rowan Smith am Jodrell Bank Centre for Astrophysics in Großbritannien und Patrick Hennebelle am CEA/Saclay in Frankreich durchgeführt wurden.

Die Ergebnisse und Analysewerkzeuge dieser Studie ermöglichen eine neue Verbindung zwischen den Beobachtungen und den physikalischen Prozessen, die zur Ansammlung von Gas führen, das der Entstehung neuer Sterne in der Milchstraße und anderen Galaxien vorausgeht. „Galaxien sind komplexe dynamische Systeme, und man findet nur schwer neue Anhaltspunkte. Archäologen restaurieren Zivilisationen aus den Ruinen von Städten. Paläontologen setzen alte Ökosysteme aus Dinosaurierknochen zusammen. Wir rekonstruieren die Geschichte der Milchstraße anhand der Wolken aus atomarem Wasserstoffgas“, schließt Soler.


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für Astronomie via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.


warte
warte
warte
warte
warte
warte
warte
warte
warte
warte