Den Geheimnissen eines exotischen Kerns auf der Spur
Physik-News vom 23.09.2021
Berechnungen des exotischen, experimentell schwer zugänglichen Kerns Zinn-100 mit neuesten ab-initio theoretischen Methoden liefern verlässliche Ergebnisse. Dies zeigen neue präzise Massenmessungen von in der Nuklidkarte benachbarten Indium-Isotopen, die mittels ausgefeilter Techniken am CERN möglich waren. Maßgeblich daran beteiligt waren Physiker aus der Abteilung von Klaus Blaum am MPI für Kernphysik. An den theoretischen Rechnungen hat die Max-Planck Fellow-Gruppe von Achim Schwenk an der TU Darmstadt mitgewirkt.
Das Zinn-Isotop mit der Massenzahl 100 ist der schwerste mögliche Atomkern mit gleicher Anzahl von Protonen und Neutronen. Die Eigenschaften dieses Atomkerns werden als der „Heilige Gral“ der Kernphysik bezeichnet. Da mit 50 Neutronen bzw. Protonen jeweils Schalen abgeschlossen sind, spricht man auch von „magischen“ Zahlen, und Zinn-100 ist demzufolge ein doppelt magischer Kern. Eigentlich sind doppelt magische Kerne besonders stabil, allerdings gilt das für schwere Kerne wie Zinn-100 nur im Vergleich zu ihren Nachbarnukliden. Zinn-100 ist kurzlebig und zerfällt zu Indium-100 (mit 49 Protonen und 51 Neutronen). Dieses extrem exotische Nuklid ist deshalb sehr schwer in ausreichender Menge herzustellen und entzieht sich weitgehend direkten, genauen Messungen. So gibt es bisher in der Literatur lediglich zwei sich widersprechende Werte für die Zerfallsenergie von Zinn-100.
Publikation:
Mougeot, M., Atanasov, D., Karthein, J. et al.
Mass measurements of 99–101In challenge ab initio nuclear theory of the nuclide 100Sn
Nat. Phys. (2021)
DOI: 10.1038/s41567-021-01326-9
Um mehr über die Eigenschaften dieses besonderen Kerns zu erfahren, bieten sich theoretische Berechnungen an. Aber wie verlässlich sind die so erhaltenen Werte? Das lässt sich anhand präziser Massenmessungen von in der Nuklidkarte benachbarten Kernen überprüfen.
Am ISOLDE-Isotopenseparator des CERN gelang es, die ebenfalls ziemlich kurzlebigen, neutronenarmen Indium-Isotope 99, 100 und 101 (letzteres im Grund- und einem angeregten metastabilen Zustand) herzustellen, zu trennen und zum ISOLTRAP-Massenspektrometer zu leiten. Dieses besteht aus einem Flugzeit-Instrument und einem nachgeschalteten Penningfallensystem, mit denen die Experimentatoren die Massen dieser Kerne mit hoher Präzision bestimmten. Daraus berechneten sie die Bindungsenergien – denn die Masse eines Atomkerns setzt sich zusammen aus der Summe der Massen der enthaltenen Nukleonen, also der Protonen und Neutronen, sowie der Bindungsenergie. Mit dem Wert für Indium-100 und den Literaturwerten der Zerfallsenergie ergeben sich stark widersprüchliche Werte für die Bindungsenergie von Zinn-100.
Parallel hat das Theorieteam Rechnungen von Indium, Zinn und anderen Atomkernen um den „Heiligen Gral“ Zinn-100 mit modernsten ab initio Methoden und Zwei- und Drei-Teilchen-Wechselwirkungen durchgeführt. Die Ergebnisse aller Methoden für Indium- sowie für neutronenreichere Zinn-Isotope zeigen jeweils dieselben Trends und stimmen gut mit den experimentellen Daten überein. Das macht die Vorhersagen für Zinn-100 ausgesprochen vertrauenswürdig. Etwas überraschend unterstützen sowohl die theoretischen Vorhersagen als auch die experimentellen Daten die ältere und nicht die neuere, eigentlich genauere Zerfallsenergie-Messung.
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für Kernphysik via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.