Keine Spur von sterilen Neutrinos
Physik-News vom 27.10.2021
Sogenannte sterile Neutrinos waren mehr als zwei Jahrzehnte lang eine vielversprechende Erklärung für Anomalien, die in früheren physikalischen Experimenten beobachtet wurden. Erste Ergebnisse der internationalen MicroBooNE-Kollaboration geben nun aber keinen Hinweis darauf, dass die theoretischen Elementarteilchen tatsächlich existieren. Dank diesem wichtigen Nullresultat können die Forschenden nun weitere Hypothesen untersuchen.
Neben Photonen sind Neutrinos die am häufigsten vorkommenden Elementarteilchen im Kosmos. Ihre Rolle etwa bei der Entwicklung des Universums ist von grosser Bedeutung in der Physik. Bisher sind drei Arten von Neutrinos bekannt. Jedoch vermuteten Physikerinnen und Physiker eine bisher unentdeckte vierte Art von Neutrinos – sogenannte sterile Neutrinos – als vielversprechende Erklärung für bestimmte Anomalien in früheren Experimenten.
Neue Ergebnisse des sogenannten MicroBooNE-Experiments am Teilchenphysik-Forschungszentrum Fermilab nahe Chicago (USA) versetzen den theoretischen Elementarteilchen nun einen Schlag: vier komplementäre Studien der internationalen MicroBooNE-Kollaboration, die heute im Rahmen eines Seminars vorgestellt wurden, zeigen keinen Hinweis für die tatsächliche Existenz der sterilen Neutrinos. Stattdessen stimmen die Ergebnisse mit dem Standardmodell der Teilchenphysik überein, der bisher besten physikalischen Theorie über die Funktionsweise des Universums. „Wir haben sehr umfassende Untersuchungen mehrerer Arten von Neutrino-Wechselwirkungen durchgeführt. Alle sagen uns dasselbe: Es gibt keine Hinweise für die Existenz von sterilen Neutrinos“, sagt Michele Weber, wissenschaftlicher Leiter des MicroBooNE-Experiments und Professor für experimentelle Teilchenphysik der Universität Bern.
Publikation:
MicroBooNE collaboration
Search for an Excess of Electron Neutrino Interactions in MicroBooNE Using Multiple Final State Topologies
arXiv:2110.14054
Die Jagd nach den „Geisterteilchen“
Neutrinos werden von verschiedenen Quellen produziert, einschliesslich der Sonne, der Atmosphäre, Kernreaktoren und Teilchenbeschleunigern. Da sie aber selten mit anderer Materie interagieren, sind sie schwer nachzuweisen, und werden deshalb auch als „Geisterteilchen“ bezeichnet. Dennoch können sie mit Teilchendetektoren indirekt sichtbar gemacht und untersucht werden.
Neutrinos gibt es in drei bekannten Arten: dem Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino. Sie können zwischen diesen Arten auf besondere Weise hin- und herwechseln, was als „Neutrino-Oszillation“ bezeichnet wird. In den 1990er-Jahren bei einem Experiment in den USA wurden zur Untersuchung dieser Neutrino-Oszillation mehr Teilchenwechselwirkungen beobachtet als theoretisch erwartet. Die Existenz einer vierten Neutrino-Art, den sterilen Neutrinos, wurde eine beliebte Erklärung dieser seltsamen Ergebnisse. Dieses hypothetische Teilchen wäre jedoch noch schwerer zu fassen als seine „Kollegen“ und würde nur auf die Schwerkraft reagieren. Mit der damaligen Detektor-Technologie wäre es jedoch gar nicht möglich gewesen, ein solches Neutrino nachzuweisen. Daher wurde 2007 die Idee zu MicroBooNE geboren.
MicroBooNE
Seit 2015 ist MicroBooNE in Betrieb. Der Teilchendetektor, der auf neusten Technologien basiert, ist in einem 12 Meter langen zylindrischen Behälter untergebracht, der mit 170 Tonnen reinem flüssigen Argon befüllt ist.
Dank des Detektors können die fast 200 Mitarbeitenden der MicroBooNE-Kollaboration spektakulär präzise 3D-Bilder von Neutrinoereignissen aufnehmen und so die Wechselwirkungen im Detail studieren. «Diese Flüssig-Argon-Technologie haben wir hier an der Universität Bern mitentwickelt und auch beim Bau von MicroBooNE hat unsere Gruppe mitgearbeitet», erklärt Igor Kreslo, Professor am Labor für Hochenergiephysik (LHEP) der Universität Bern.
Zudem wurde am Laboratorium für Hochenergiephysik und am Albert Einstein Center for Fundamental Physics (AEC) der Universität Bern ein Kalibrations-System entwickelt und eine Detektorkomponente für den Nachweis von kosmischen Strahlen gebaut, die zentral sind für die Präzision der Ergebnisse von MicroBooNE.
MicroBooNE Albert Einstein Center for Fundamental PhysicsWichtiges Nullresultat öffnet viele Türen
Die ersten drei Jahre der Daten von MicroBooNE wurden nun ausgewertet – und zeigen keine Spur von sterilen Neutrinos. Gemäss Michele Weber ist dies ein spannender Wendepunkt in der Neutrinoforschung: „Natürlich sind Entdeckungen spannender als Nullresultate – aber diese sind umso wichtiger. Wir können nun die wahrscheinlichste Erklärung für die Anomalien weitestgehend ausschliessen und andere – komplexere und vielleicht interessantere – Möglichkeiten untersuchen.“ Die Hälfte der Daten von MicroBooNE ist noch auszuwerten und die Möglichkeiten zur Erklärung der Anomalien sind vielfältig: „Dazu gehören so faszinierende Dinge wie Licht, das durch neuartige Prozesse bei Neutrinokollisionen erzeugt wird, oder so exotische wie die dunkle Materie“, sagt Weber. Der MicroBooNE-Teilchendetektor ermöglicht es den Forschenden, weitere Arten von Teilchenwechselwirkungen zu untersuchen.
Die Zukunft der Neutrino-Forschung
MicroBooNE gehört zu einer ganzen Reihe von Neutrino-Experimenten, die nach Antworten suchen. Die Grundlagen, die mit MicroBooNE geschaffen werden, sind für die weiteren Experimente unerlässlich. Entscheidend ist beispielweise, dass sich die Flüssig-Argon-Technologie bewährt hat, da sie auch im Deep Underground Neutrino Experiment DUNE verwendet wird. DUNE ist ein internationales Flaggschiff-Experiment am Fermilab, an dem bereits mehr als 1‘000 Forschende aus über 30 Ländern beteiligt sind. DUNE wird Oszillationen untersuchen, indem Neutrinos unter der Erde zu 1‘300 Kilometer entfernten Detektoren am Sanford Lab in South Dakota (USA) geschickt werden. Die Universität Bern steuert die Hauptkomponente des sogenannten DUNE „near detector“ bei, der Neutrinos unmittelbar nach ihrer Entstehung nachweisen soll. Der „ArgonCube“, wie dieser spezielle Detektor genannt wird, wurde komplett in Bern konzipiert und entwickelt und auch bereits als Prototyp gebaut.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Universität Bern via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.