Quantendarwinismus

Quantendarwinismus

Der Quantendarwinismus ist eine Hypothese, die eine auf darwinscher Selektion basierende Entstehung der klassischen Welt aus der Quantenwelt beschreibt. Sie wurde von Wojciech Zurek und einer Forschergruppe, zu deren Mitgliedern Ollivier, Poulin, Paz und Blume-Kohout gehören, gemeinsam vorgeschlagen, geht in ihrer Entwicklung aber auf die Vernetzung einiger Forschungsgebiete zurück, die von Zurek vorgenommen wurde. Folgende Aspekte sind die tragenden:

  • die von Darwin als allgemeingültiger Algorithmus formulierte Evolutionstheorie
  • die sogenannten Pointerzustände (pointer states)[1], die in ihrer Umgebung robust sind (nicht verschmieren) und sich in Form u. a. ihres Gehalts an Information aus der Quanten- in die Welt der klassischen Physik vererben[2]
  • die Theorie der Dekohärenz
  • und der einselection („environment-induced superselection“), in der die Umwelt als Faktor gilt, der einen selektiven Druck auf die integralen Zustände ausübt.

Zurek betreibt seine diesbezüglichen Forschungen seit ca. 25 Jahren.

Auswirkungen

Ähnlich wie Zureks Theorie der envariance (von „entanglement-assisted invariance“, also der durch Quantenverschränkung gestützten Invarianz), erklärt der Quantendarwinismus, wie die klassische Welt aus der Quantenwelt entsteht und bietet mögliche Lösungen für das sog. Messproblem, dessen Interpretation philosophisch die größte Herausforderung auf dem Gebiet der Quantentheorie darstellt. Dieses Problem kommt dadurch zustande, dass der Vektor des Quantenzustands (die Quelle aller Informationen über ein Quantensystem) sich gemäß der Schrödingergleichung zu einer linearen Superposition entwickelt. Damit sind einander überlagernde Zustände wie z. B. „Schrödingers zugleich lebend-tote Katze“ gemeint – Situationen, die es in unserer klassischen Welt nicht gibt. Verschiedene hochrangige Quantenphysiker erklären dieses Problem häufig dadurch für gelöst (oder nicht existent), dass sie annehmen, der Zustandsvektor werde auf nicht-unitäre Weise, infolge des Messaktes, in den definitiv gemessenen Zustand transformiert.

Der physikalische Charakter des Übergangs von der Superposition der Zustände zum eindeutigen klassischen Zustand wird in der heutigen Quantentheorie normalerweise also nicht erklärt, sondern wie ein Axiom behandelt; zuvor war er Grundlage für die um Vollständigkeit der Quantentheorie ringende Auseinandersetzung zwischen Niels Bohr und Albert Einstein – wahrscheinlich die berühmteste in der Physikgeschichte.

Der Quantendarwinismus beschreibt den Übergang jedes denkbaren Quantensystems mit seinem riesigen Potenzial an Variationen zu der sehr eingeschränkten Menge an Pointerzuständen als einen sogenannt einselectiven Prozess. Dabei reagiert das betreffende Quantensystem auf eine sich an seine Umwelt anpassende Weise. Alle Quantenwechselwirkungen, typischerweise mit dem im Kosmos allgegenwärtigen Photonenmeer, jedoch auch z. B. einer Messapparatur, münden in eine Quantendekohärenz oder Manifestierung des Quantensystems in einer bestimmten Basis von Eigenzuständen, die vom Charakter der Wechselwirkung, an der das Quantensystem beteiligt ist, bedingt sind. Zurek und seine Mitarbeiter haben nun gezeigt, dass diese Pointerzustände das bevorzugte Ergebnis der Dekohärenzvorgänge sind und den klassischen Zuständen zugrunde liegen. Auf diese Weise werden die Pointerzustände zu Bereichen der klassischen Realität, welche eine weitere Evolution erfährt.

Insofern jedes Quantensystem aus mehr oder minder redundanten Variationen der letztlich herausselektierten Pointerzustände besteht und diese wiederum Informationen darstellen, kann die Umwelt als eine Ansammlung von Beobachtern aufgefasst werden, die sich im Augenblick der Dekohärierung auf einen Pointerzustand einigen (ihn gegenüber den restlichen Varianten bevorzugen). Dieser Aspekt der einselection, den Zurek das „Environment as Witness - Die Umgebung als Zeuge“ nennt, führt potenziell zu objektivem Wissen. Dies ist z. B. der Fall, sobald die kosmische Urumwelt (über eine Reihe kausal zusammenhängender Schritte) zu einem Wissenschaftler evolutionierte, der seine Hypothese zu verifizieren und dadurch in eine Theorie umzuwandeln versteht.

Die Bedeutung des Darwinismus

Die Hypothese des Quantendarwinismus impliziert die Annahme eines selektiv wirkenden Mechanismus, der unsere klassische Realität erzeugt. Wie zahlreiche Wissenschaftler verdeutlicht haben, führt jede Art von natürlicher Selektion zu Entwicklung (Evolution), in dem Sinne, dass sich aus einer Menge früherer Zustände ein bestimmter neuer zu konsolidieren beginnt, der sich neben seinen 'Vorfahren' behaupten oder sie auch ablösen (verdrängen) kann. Das Besondere an Darwins Theorie ist nun, dass er sie – wegen der logischen Herkunft ihres hypothetischen Ur-Einzellers aus dem Reich der unbelebten Materie – nicht auf die Biologie beschränkte. Um dem Anspruch gerecht zu werden, die Entstehung der 'lebendigen' Materie aus der 'toten' erklären zu können, formulierte Darwin die Grundregeln seiner Evolutionstheorie in Gestalt eines allgemeingültigen, dreistufigen Algorithmus:

  1. Reproduktion – die Fähigkeit, Kopien von sich herzustellen und so Nachfahren zu produzieren.
  2. Vererbung – der Umstand, dass die erzeugten Kopien "Eigenschaften" (Information) tragen.
  3. Variabilität – Unterschiede zwischen den ererbten Eigenschaften führen zu unterschiedlichen Graden der Anpassung an die Umwelt ("Fitness"), was die Fähigkeit, zu überleben und sich seinerseits zu kopieren, mindert oder steigert.

Der Quantendarwinismus scheint diese 'Anweisungen' korrekt zu integrieren, seine Bezeichnung insofern treffend gewählt:

  1. Jedes Quantensystem beinhaltet potenziell unendlich viele, stärker oder schwächer voneinander abweichende Kopien (mögliche Wirklichkeiten).
  2. Die infolge der Dekohärenz Wirklichkeit gewordenen Pointerzustände sind Träger von Eigenschaften (Information), darunter die Fähigkeit, sie an nachfolgende Zustände zu vererben.
  3. Sukzessive Wechselwirkungen zwischen Pointerzuständen und ihrer Umwelt zeigen, dass sie ihr gegenüber besonders stabil sind, daher eher "überleben" und sich weiterentwickeln als zahllose andere Optionen eines Quantensystems.

Aus dieser Perspektive bieten Zurek und Mitarbeiter eine darwinistische Erklärung zur Herkunft unserer makroskopischen Realität aus der Quantenwelt. Es ist vielleicht überraschend, dass gemäß einer wissenschaftlichen Hypothese ein und derselbe Mechanismus die Entstehung des menschlichen Geistes und seiner Kulturleistungen aus der Biologie und dieser aus der rätselhaften Quantenrealität ermöglichen soll.

Literatur

  • S. Haroche, J.-M. Raimond, Exploring the Quantum: Atoms, Cavities, and Photons, Oxford University Press (2006), ISBN 0-198-50914-6, S. 77 ff.
  • M. Schlosshauer, Decoherence and the Quantum-to-Classical Transition, Springer 2007, ISBN 3-540-35773-4, Kap. 2.9, S. 85 ff.

Weblinks

Originalarbeiten und Belege

  • W. Zurek, Quantum Darwinism, Nature Physics 5 (2009) S. 181–188 (doi:10.1038/nphys1202).
  • R. Blume-Kohout, W. H. Zurek, Quantum Darwinism: Entanglement, branches, and the emergent classicality of redundantly stored quantum information, Phys. Rev. A 73, 062310 (2006). arxiv:quant-ph/0505031.
  • Zurek Quantum Darwinism and Envariance, 2003, arxiv:quant-ph/0308163.
  • Ollivier, Poulin, Zurek Environment as a Witness: Selective Proliferation of Information and Emergence of Objectivity in a Quantum Universe, 2004, arxiv:quant-ph/0408125
  • Zurek Probabilities from entanglement, Born’s rule vom envariance, 2004, arxiv:quant-ph/0405161
  • Zurek Decoherence and the Transition from Quantum to Classical—Revisited, Los Alamos Science 2002, Update seines Aufsatzes zur Dekohärenz in Physics Today 1991, arxiv:quant-ph/0306072
  • Zurek Relative States and the Environment: Einselection, Envariance, Quantum Darwinism, and the Existential Interpretation, 2007, arxiv:0707.2832
  • Quantum Darwinism on arxiv.org

Einzelnachweise