Als Gitterfehler (auch Gitterdefekt oder Kristall(bau)fehler) wird jede Unregelmäßigkeit in einem sonst periodischen Kristallgitter bezeichnet. Die Existenz von Gitterfehlern unterscheidet den realen Kristall vom theoretischen Modell des idealen Kristalls. Gitterfehler sind von grundlegender Bedeutung für viele Eigenschaften eines Kristalls, insbesondere für die chemische Reaktivität, Stofftransport und Diffusion im Kristall sowie für seine mechanischen Eigenschaften.
Die Einteilung der Gitterfehler erfolgt anhand der räumlichen Ausdehnung des Fehlergebietes. Man kennzeichnet die Zahl der räumlichen Dimensionen, in denen der Gitterfehler mehr als atomare Ausdehnung besitzt. Auf diese Weise werden null- bis dreidimensionale Gitterfehler unterschieden.
Punktdefekte sind Defekte, die die Ausdehnung eines einzelnen Atoms haben. Formal sind sie also auf einen einzelnen Gitterplatz beschränkt. Es lassen sich drei Fälle unterscheiden.
Punktfehler unterscheiden sich von den höherdimensionalen Fehlern dadurch, dass sie als einzige im thermodynamischen Gleichgewicht vorkommen. Da sie eine notwendige Voraussetzung für Stofftransport und damit für die chemische Reaktivität in einem Kristall sind, hat sich in der Physikalischen Chemie ein eigener Zweig der Thermodynamik entwickelt, die sogenannte Punktdefekt-Thermodynamik.
Verschiedene Punktfehler sind in einem Kristall durch Ladungs- und Strukturbedingungen aneinander gekoppelt und kommen daher oft in bestimmten Kombinationen vor. Einige wichtige Kombinationen haben eigene Bezeichnungen bekommen. Zu nennen sind Schottky-Fehlordnung, Frenkel-Fehlordnung, Einlagerungsmischkristalle und Substitutionsmischkristalle. Um mit Punktdefekten formale Reaktionsgleichungen aufstellen zu können wird die Kröger-Vink-Notation verwendet.
Punktdefekte können in intrinsische und extrinsische Defekte unterteilt werden. Von intrinsischen Defekten spricht man, wenn die Defekte im thermodynamischen Gleichgewicht des reinen Kristalls vorkommen. Extrinsische Defekte dagegen werden durch die Anwesenheit einer zweiten Phase verursacht. Beispielsweise ist die Schottky-Fehlordnung eines Natriumchlorid-Kristalls intrinsisch. Wenn der Kristall aber mit geringen Mengen Kaliumchlorid dotiert wird, so werden die resultierenden Kalium-Substitutionsatome auf Natrium-Plätzen als extrinsische Defekte bezeichnet. Auf diesem Unterschied in der Art der Ladungsträger basieren die intrinsische und die extrinsische Leitfähigkeit.
Linienfehler werden gewöhnlich als Versetzungen oder Versetzungslinien bezeichnet. Es gibt zwei Typen: Stufenversetzungen und Schraubenversetzungen. Beide sind entscheidend für die mechanischen Eigenschaften des Kristalls und daher von großer Bedeutung in den Materialwissenschaften. Sie können aber auch „Pfade“ erhöhter Atom- oder Ionenbeweglichkeit sein und dadurch Stofftransport und Reaktivität des Kristalls beeinflussen.
Zur Charakterisierung der Versetzung dient der Burgersvektor, der bei Stufenversetzung senkrecht auf der Versetzungslinie steht. Bei Schraubenversetzung liegt er parallel zur Versetzungslinie.
Ein realer Kristall hat zwangsläufig eine endliche Ausdehnung und dadurch eine Oberfläche. Dies stellt eine Unterbrechung der Translationssymmetrie und damit den einfachsten Flächenfehler dar. Aus dem gleichen Grund zählen Grenzflächen zu anderen Phasen zu den Flächenfehlern. Die atomare Struktur in der Nähe einer Grenzfläche hängt sehr stark vom Aggregatzustand, der chemischen Zusammensetzung und gegebenenfalls der kristallographischen Orientierung der zweiten Phase ab.
Alle anderen zweidimensionalen Fehler treten nur im Inneren des betrachteten Kristalls auf.
Ferner werden auch die Wände zwischen ferromagnetischen oder ferroelektrischen Domänen eines Kristalls zu den Flächenfehlern gezählt.
Volumenfehler (auch Inklusionen) sind vollständige Fremdphasen im Inneren des Kristalls.
Da Volumenfehler den sie umgebenden Kristall verzerren, sind sie von einer Zone mit einer höheren Konzentration niederdimensionaler Gitterfehler umgeben.
Einen Sonderfall stellt die sogenannte strukturelle Fehlordnung dar, die in einigen Ionenkristallen vorkommt. In solchen Kristallen hat ein einzelnes Teilgitter vollständig seine Translationssymmetrie verloren. Die Ionen dieses Teilgitters haben eine extrem hohe Beweglichkeit. Man spricht von einem quasi-geschmolzenen Teilgitter. Die Kristalle werden dadurch zu sehr guten festen Ionenleitern, sogenannten Superionenleitern. Eine Voraussetzung für strukturelle Fehlordnung ist, dass sehr große Ionen mit großen Zwischenräumen neben kleinen, in diesen Zwischenräumen beweglichen Ionen vorliegen. Das fehlgeordnete Teilgitter ist daher immer ein Kationengitter.
Beispiele für Kristalle mit struktureller Fehlordnung sind bestimmte Modifikationen von Silbersulfid, Silberiodid und Rubidiumsilberiodid, bei denen jeweils das Silberteilgitter strukturell fehlgeordnet ist.
Eine erfolgreiche mathematische Methode zur Klassifikation physikalischer Gitterdefekte, die sich nicht nur in der Versetzungstheorie gewöhnlicher Kristalle, sondern u. a. auch zur Beschreibung von sogenannten Disklinationen in flüssigen Kristallen und bei Anregungen der supraflüssigen Zustände von $ He^{3} $ bewährt hat, ist die topologische Homotopietheorie.[1]