Lise Meitner (eigentlich Elise Meitner; geboren am 7. November[1] 1878 in Wien, Österreich-Ungarn; gestorben am 27. Oktober 1968 in Cambridge, Vereinigtes Königreich) war eine österreichische Kernphysikerin. Unter anderem veröffentlichte sie im Februar 1939 zusammen mit ihrem Neffen Otto Frisch die erste physikalisch-theoretische Erklärung der Kernspaltung, die ihr Kollege Otto Hahn und dessen Assistent Fritz Straßmann am 17. Dezember 1938 ausgelöst und mit radiochemischen Methoden nachgewiesen hatten.
Elise „Lise“ Meitner wurde 1878 in Wien-Leopoldstadt (2. Wiener Gemeindebezirk) geboren. Sie war die dritte Tochter des aus der Gegend von Mährisch Weißkirchen stammenden jüdischen Rechtsanwaltes Philipp Meitner (1839–1910) und seiner Frau Hedwig Meitner-Skovran, die 1875 geheiratet hatten. Ihre Eltern wohnten damals in der Kaiser-Joseph-Straße Nr. 27, der heutigen Heinestraße, im heute Volkertviertel genannten Bezirksteil. Ihr Vater betrieb dort, bevor die Familie an „bessere Adressen“ übersiedelte, seine Kanzlei als Hof- und Gerichtsadvokat. Während in älteren Biographien und im Nachruf auf Lise Meitner von ihrem Neffen Robert Frisch steht, sie sei wie alle anderen Kinder der Familie protestantisch getauft und erzogen worden,[2][3] widerspricht dem Ruth Sime in ihrer Biographie von Lise Meitner:[4] Alle Kinder der Familie waren bei Geburt in der jüdischen Gemeinde registriert und traten erst als Erwachsene zum Christentum über. Lise Meitner wurde erst am 29. September 1908 durch die Taufe in die evangelische Kirche A.B. aufgenommen.[5] Sie wuchsen auch in einer jüdischen Umgebung Wiens auf, die Familie versuchte sich aber von der jüdischen Vergangenheit abzugrenzen (der Vater von Lise Meitner galt nach Frisch als Freidenker) und selbst bei Lise Meitners Neffen Otto Robert Frisch entstand der feste Eindruck, die Mutter und seine Onkel und Tanten wären protestantisch erzogen worden. Der Vater und die Mutter von Lise Meitner ließen aber ihre Kinder nicht taufen und ließen sich auch selbst nie taufen, obwohl das gesellschaftliche und berufliche Vorteile gebracht hätte, die Familie assimilierte sich aber und wandte sich dem Protestantismus zu.[6]
In der Familie spielte Musik eine große Rolle und die Kinder lernten vor allem durch den Einfluss der Mutter Klavier spielen.[7] Sie interessierte sich früh für Mathematik und lernte auf diesem Gebiet auch von Privatlehrern, die ihr Vater für die Kinder anstellte. Ihre Schullaufbahn absolvierte Meitner auf einer Bürgerschule, da an den Gymnasien Mädchen nicht zugelassen wurden. Nach dem Schulabschluss legte Lise Meitner das Lehrerinnen-Examen für Französisch ab. Außerdem bereitete sie sich im Selbststudium auf die Matura vor und legte die Reifeprüfung 1901 im Alter von 22 Jahren am Akademischen Gymnasium Wien ab, wo sie als gewählten Beruf die realistischen Studien der Philosophie angab.[8]
Im Jahre 1901 begann sie, Physik, Mathematik und Philosophie an der Universität Wien zu studieren. Ihr wichtigster akademischer Lehrer dort wurde Ludwig Boltzmann. Bereits in den ersten Jahren beschäftigte sie sich mit Radioaktivität. Sie wurde 1906 als zweite Frau im Hauptfach Physik an der Wiener Universität promoviert. Der Titel ihrer Doktorarbeit lautete Prüfung einer Formel Maxwells (veröffentlicht unter dem Titel Wärmeleitung in inhomogenen Körpern), und ihr Doktorvater war Franz Serafin Exner.[9] Anschließend bewarb sie sich bei Marie Curie in Paris, allerdings erfolglos. Das erste Jahr nach ihrer Promotion arbeitete sie am Institut für Theoretische Physik in Wien.
Im Jahr 1907 ging sie zur weiteren wissenschaftlichen Ausbildung nach Berlin, wo sie vor allem Vorlesungen bei Max Planck hören wollte. Dort traf sie erstmals auf den jungen Chemiker Otto Hahn, mit dem sie die folgenden 30 Jahre zusammenarbeiten sollte. Sie arbeitete mit Hahn – wie er auch – als „unbezahlter Gast“ in Plancks Arbeitsraum, einer ehemaligen Holzwerkstatt, im Chemischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität in der Hessischen Straße. Da im damaligen Preußen Frauen noch nicht studieren durften, musste sie das Gebäude immer durch den Hintereingang betreten und durfte die Vorlesungsräume und Experimentierräume der Studenten nicht betreten. Dieses Verbot fiel erst 1909, nachdem das Frauenstudium in Preußen offiziell eingeführt worden war.
Otto Hahn entdeckte 1909 den radioaktiven Rückstoß, und mit der sich daran anschließenden „Rückstoßmethode“ fanden Hahn und Lise Meitner in den Folgejahren auch diverse radioaktive Nuklide. Durch diese Erfolge machte sich Lise Meitner in der Physik einen Namen und lernte unter anderem Albert Einstein und Marie Curie persönlich kennen. Von 1912 bis 1915 war sie inoffizielle Assistentin bei Max Planck.
1912 verbesserten sich die Arbeitsbedingungen von Hahn und Meitner deutlich, als sie ihre Forschungen in der von Hahn aufgebauten Forschungsabteilung Radioaktivität des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem (heutiger Hahn-Meitner-Bau an der Thielallee, Institut der Freien Universität Berlin) fortsetzen konnten. Meitner arbeitete zunächst unentgeltlich weiter, wurde jedoch 1913 wissenschaftliches Mitglied des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie.
Zumindest zu Beginn des Ersten Weltkriegs zeigte sie sich ebenso von Kriegsbegeisterung ergriffen wie nahezu alle ihre damaligen Kollegen.
So hatte Hahn zusammen mit James Franck und Gustav Hertz im Auftrag durch Fritz Haber am 22. April 1915 persönlich den erstmaligen Einsatz von Chlorgas in der Zweiten Flandernschlacht überwacht. Die Giftgaswolke überraschte damals noch den Gegner, etwa 5000 Soldaten starben und weitere etwa 10.000 wurden kampfunfähig verletzt.[10] Drei Tage darauf schrieb Meitner an Hahn: „Ich beglückwünsche Sie zu dem schönen Erfolg bei Ypern“.[11] Meitner war allerdings selbst nicht an Forschung oder Entwicklung chemischer Kampfstoffe beteiligt. Sie ließ sich zur Röntgenassistentin und Krankenpflegerin ausbilden[12] und war ab Juli 1915 zunächst als Röntgenschwester der österreichischen Armee in einem Lazarett an der Ostfront eingesetzt.
Bereits im Oktober 1916 kehrte sie nach Berlin in das Institut zurück[13] und arbeitete erneut gemeinsam mit Hahn, der im Dezember 1916 nach Berlin versetzt worden war. 1917 entdeckten Hahn und Meitner das chemische Isotop Protactinium-231, die langlebige Form des Elements mit der Ordnungszahl 91, das mit dem schon 1913 von Kasimir Fajans und Oswald Helmuth Göhring entdeckten kurzlebigen Isotop Protactinium-234 (damals Brevium genannt) in Konkurrenz stand. (Im Jahre 1949 wurde das neue Element Nr. 91 von der IUPAC endgültig Protactinium genannt und Hahn und Meitner als alleinige Entdecker bestätigt).
1918 erhielt Lise Meitner erstmals eine eigene radiophysikalische Abteilung mit angemessenem Gehalt und wurde Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie. 1922 habilitierte sie sich und bekam dadurch das Recht, als Dozentin zu arbeiten. 1926 wurde sie außerordentliche Professorin für experimentelle Kernphysik an der Berliner Universität, Deutschlands erste Professorin für Physik.[14]
Anfang 1933 war Meitner wie viele andere noch zuversichtlich, dass die Folgen der Machtübernahme durch die NSDAP glimpflich bleiben würden. Meitner war der Meinung, dass derartige Zeiten des Umbruchs zunächst unvermeidlich mit allen möglichen Wirren verbunden seien, nun komme es auf vernünftige Zurückhaltung an. Hitlers im Radio übertragene Antrittsrede als Reichskanzler habe doch „sehr moderat geklungen, taktvoll und versöhnlich“.[15] Aber als Folge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von Anfang April 1933 wurde Meitner aufgrund ihrer jüdischen Abstammung die Lehrbefugnis entzogen, sie konnte ihre Arbeit an Bestrahlungsexperimenten mit Neutronen lediglich am (nicht-staatlichen) Kaiser-Wilhelm-Institut fortsetzen. 1938, als Deutschland Österreich annektierte, wurde Lise Meitner deutsche Staatsbürgerin und war dadurch als gebürtige Jüdin in besonderer Weise gefährdet.
Otto Hahn hatte große Sorge um ihre Sicherheit und bereitete daher zusammen mit dem niederländischen Chemiker Dirk Coster ihre illegale Ausreise ins Exil vor, die am 13. Juli 1938 gelang. Über die Niederlande und Dänemark kam sie nach Schweden, wo sie ihre Forschungen bis 1946 am Nobel-Institut fortsetzte. Hahn und Meitner korrespondierten weiter miteinander. Ende Dezember 1938 schrieb ihr Hahn von einem Vorgang, den er, zusammen mit seinem Assistenten Fritz Straßmann, aufgrund äußerst sorgfältiger radiochemischer Methoden entdeckt hatte und den er als „Zerplatzen“ des Urankerns bezeichnete.
Otto Hahn fragte Lise Meitner in einem Brief zum „Zerplatzen“:[16]
„Wäre es möglich, dass das Uran 239 zerplatzt in ein Ba und ein Ma? Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein Urteil zu hören. Eventuell könntest du etwas ausrechnen und publizieren.“
Durch Otto Hahn weiterhin über alle in Berlin vollzogenen Versuche auf dem Laufenden gehalten (er hatte die Physiker in seinem Institut nicht informiert und Lise Meitner als einzige über alle Experimente und Ergebnisse brieflich unterrichtet), konnte Lise Meitner im Februar 1939 mit ihrem Neffen, dem Kernphysiker Otto Robert Frisch, in dem Aufsatz „Disintegration of Uranium by Neutrons: a New Type of Nuclear Reaction“[17] eine erste physikalisch-theoretische Deutung (siehe auch Ida Noddack-Tacke) für das von Otto Hahn formulierte „Zerplatzen“ des Uran-Atomkerns geben. Frisch prägte dabei den Begriff „nuclear fission“ (Kernspaltung), der in der Folgezeit international anerkannt wurde.
„Dass Otto Hahn seine Kollegin und lebenslange Freundin Lise Meitner als erste und zunächst exklusiv über die große Entdeckung informiert hat, dazu gehörte sehr viel Mut. – Man bedenke: Ein deutscher Institutsdirektor informiert im Jahre 1938 über eine Jahrhundert-Entdeckung zuerst seine emigrierte jüdischstämmige Kollegin! Das hätte ihn leicht ins KZ Sachsenhausen bringen können. Diese Tat ist eines der vielen Beispiele für den unverdrossenen Mut, die unerschütterliche Freundestreue, die Ehrlichkeit und Geradlinigkeit des großen Gelehrten.“
Die beiden Bruchstücke (Atomkerne), die bei der Spaltung entstehen, haben zusammen eine geringere Masse als der ursprüngliche Uranatomkern. Aus dieser Massendifferenz errechneten Lise Meitner und Otto Robert Frisch mit Einsteins Formel E=mc² die bei der Spaltung freiwerdende Energie von etwa 200 Millionen Elektronenvolt pro gespaltenem Atomkern.
In einer späteren Würdigung schrieb Lise Meitner:
„Die Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann hat ein neues Zeitalter in der Geschichte der Menschheit eröffnet. Die dieser Entdeckung zugrunde liegende wissenschaftliche Leistung scheint mir darum so bewundernswert, weil sie ohne jede theoretische Wegweisung auf rein chemischem Weg erreicht worden ist.“
Und in einem Fernsehinterview (ARD, 8. März 1959) ergänzte sie:
„Es gelang mit einer ungewöhnlich guten Chemie von Otto Hahn und Fritz Straßmann, mit einer phantastisch guten Chemie, die zu dieser Zeit wirklich niemand anderer gekonnt hat. Später haben’s die Amerikaner gelernt. Aber damals waren wirklich Hahn und Straßmann die einzigen, die das überhaupt machen konnten, weil sie so gute Chemiker waren. Sie haben wirklich mit der Chemie einen physikalischen Prozeß sozusagen nachgewiesen.“
Fritz Straßmann erwiderte in demselben Interview präzisierend:
„Frau Professor Meitner hat vorhin erklärt, dass der Erfolg auf die Chemie zurückzuführen ist. Ich muss sie etwas korrigieren. Denn die Chemie hat lediglich zustande gebracht eine Isolierung der einzelnen Substanzen, aber nicht eine genaue Identifizierung. Um das durchzuführen, war die Methode von Herrn Professor Hahn notwendig. Das ist also sein Verdienst.“
Und in ihrem Artikel Otto Hahn – der Entdecker der Uranspaltung (1955) hob Lise Meitner explizit hervor:
„Hahns folgenreichste Leistung ist zweifellos die Entdeckung der Uranspaltung, die zur Erschließung einer fast unerschöpflichen Energiequelle mit sehr eingreifenden Anwendungsmöglichkeiten – zum Guten oder Bösen – geführt hat. Wie sehr Hahn die Beschränkung auf friedliche Ausnutzung der Atomenergie am Herzen liegt, geht aus vielen seiner Reden und Vorträge hervor.“[19]
Auch Otto Robert Frisch betonte gelegentlich, um Missverständnissen vorzubeugen:
„Diese Entdeckung, die 1944 verdienterweise mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, rief auf der ganzen Welt große Erregung hervor. […] Otto Hahn nannte den Vorgang Zerplatzen, während er heute als Spaltung bezeichnet wird.“[20]
Meitner, inzwischen überzeugte Pazifistin, weigerte sich, Forschungsaufträge für den Bau einer Atombombe anzunehmen, obwohl sie von den USA immer wieder dazu aufgefordert wurde. Sie zog es vor, während des Zweiten Weltkrieges in Schweden zu bleiben.
Für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Kernspaltung wurde Otto Hahn 1945 der Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1944 verliehen (überreicht wurde er erst 1946). Lise Meitner und Otto Frisch wurden dabei nicht berücksichtigt, und auch in den darauf folgenden Jahren wurde ihnen diese Ehrung nicht zuteil, obwohl sie von mehreren Physikern – auch von Otto Hahn selbst – für den Physik-Nobelpreis vorgeschlagen wurden.
Die Nichtvergabe an Lise Meitner und Otto Frisch ist aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar, vor allem weil die beiden in Stockholm die theoretische Erklärung für das Phänomen verfassten. Außerdem baute Otto Hahn die berühmte Versuchsanordnung nach einer Anweisung von Lise Meitner auf. Ein Zitat aus Thomas Seilnachts Biografien bedeutender Chemiker verdeutlicht dies:[21]
„Mühsam wurde die Veröffentlichung auf englisch per Telefon von Stockholm nach Kopenhagen übertragen. Lise Meitner hatte zwei der drei entscheidenden Bausteine für die Entdeckung der Kernspaltung geliefert, nämlich Versuchsaufbau und Theorie. Otto Hahn führte die Experimente aus und konnte sich das entdeckte Phänomen zunächst nicht erklären.“
Der niederländische Chemiker Dirk Coster, der Lise Meitner im Juli 1938 auf ihrer Flucht begleitet hatte, schrieb ihr anlässlich der Nobelpreis-Verleihung:
„Otto Hahn, der Nobelpreis! Er hat ihn sicher verdient. Es ist aber schade, dass ich Sie 1938 aus Berlin entführt habe […] Sonst wären Sie auch dabei gewesen. Was sicher gerechter gewesen wäre.“
Lise Meitner, die das „Zerplatzen“ des Urankerns exklusiv aus erster Hand von Otto Hahn erfahren hatte und die chemischen Leistungen ihres Kollegen wohl am besten beurteilen konnte, sah jedenfalls die Nobelpreis-Verleihung ganz sachlich. An ihre Freundin Birgit Broomé-Aminoff schrieb sie Ende November 1945:[22]
„Hahn hat sicher den Nobelpreis für Chemie voll verdient, da ist wirklich kein Zweifel. Aber ich glaube, dass Frisch und ich etwas nicht Unwesentliches zur Aufklärung des Uranspaltungsprozesses beigetragen haben – wie er zustande kommt und daß er mit einer so großen Energieentwicklung verbunden ist, lag Hahn ganz fern.“
Carl Friedrich von Weizsäcker, Lise Meitners ehemaliger Assistent, ergänzte später:
„Er hat in der Tat diesen Nobelpreis verdient, hätte ihn auch verdient, ohne dass er diese Entdeckung gemacht hätte. Aber dass für die Kernspaltung ein Nobelpreis fällig war, das war wohl jedermann klar.“[23]
Und über den Nobelpreis für Hahn schrieb Otto Robert Frisch im Jahre 1956:
„Das ist auch nach meiner Meinung ganz richtig. Die Entdeckung der Uranspaltung […] war die entscheidende Beobachtung, aus der sich alles weitere sehr rasch entwickeln mußte.“[24]
Dennoch wird seit einigen Jahren von der amerikanischen Chemikerin und Feministin Ruth Lewin Sime die Ansicht vertreten, Otto Hahn habe den Nobelpreis nicht oder nicht allein verdient, habe Lise Meitner sogar bewusst ausgebootet, um ihn nicht mit ihr teilen zu müssen. Auch habe er sich ihr gegenüber in der Nachkriegszeit charakterlos verhalten. Diese Unterstellungen entfachten einen Sturm der Empörung unter den mit den historischen Fakten vertrauten Experten,[25][26] werden aber nach wie vor in der heutigen Literatur immer wieder einmal zitiert und kontrovers diskutiert. Ernst Peter Fischer, Physiker und Wissenschaftshistoriker der Universität Konstanz bezeichnete die Tatsache, dass Lise Meitner keinen Nobelpreis erhielt, sogar drastisch als „Dummheit der schwedischen Akademie“.[27] Lise Meitner hätte allerdings dieser simplifizierenden Einschätzung entschieden widersprochen, da sie Vorurteile und einseitige Interpretationen immer strikt abgelehnt hat.
„Das ist in meinen Augen gerade der große moralische Wert der naturwissenschaftlichen Ausbildung, daß wir lernen müssen, Ehrfurcht vor der Wahrheit zu haben, gleichgültig, ob sie mit unseren Wünschen oder vorgefaßten Meinungen übereinstimmt oder nicht.“
Ein deutliches Urteil vertrat auch Berta Karlik, die Leiterin des Instituts für Radiumforschung in Wien, die an ihre Kollegin Erika Cremer schrieb:
„Da ich die Berliner Arbeiten seinerzeit eingehend verfolgt habe, und sowohl mit Hahn wie mit Meitner persönlich so gut bekannt, ja befreundet war, bin ich stets der Auffassung gewesen, dass die Entdeckung der Spaltung einzig und allein Hahn zuzuschreiben ist.[29]“
2018 wurde hingegen die Vermutung geäußert, dass Meitners schwedische Kollegen The Svedberg und Manne Siegbahn teilweise in Verkennung der realen Umstände, teils aus persönlichen Gründen gegen die Auszeichnung Meitners intrigiert hätten.[30]
Als „jüdische Mutter der Atombombe“ und „Frau des Jahres“ wurde Lise Meitner 1946 bei einer Vorlesungsreise in den USA in der amerikanischen Presse zu ihrem Missfallen bezeichnet, ein Jahr nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki.[31] Für Lise Meitner war es stets undenkbar, ihre Arbeit in den Dienst einer Massenvernichtungswaffe zu stellen.[31][32][33]
Ab 1947 leitete Lise Meitner die kernphysikalische Abteilung des Physikalischen Instituts der Königlich Technischen Hochschule Stockholm und hatte diverse Gastprofessuren an US-amerikanischen Universitäten inne.
In der Nachkriegszeit erhielt Lise Meitner zahlreiche Ehrungen in aller Welt, in besonderer Weise in der Bundesrepublik Deutschland, so beispielsweise 1955 den ersten „Otto-Hahn-Preis für Chemie und Physik“, 1956 den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste[34] und 1962 die Dorothea-Schlözer-Medaille der Georg-August-Universität Göttingen. Für alle drei Ehrungen hatte Otto Hahn sie vorgeschlagen. 1959 wurde in Berlin – in Anwesenheit beider Namensgeber – das „Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung“ (HMI) vom Regierenden Bürgermeister Willy Brandt offiziell eingeweiht. Zu allen diesen Anlässen, aber auch zu privaten Besuchen kam Lise Meitner stets gerne nach Deutschland.
So ließ sie es sich ebenfalls nicht nehmen, eigens von Stockholm nach Göttingen zu reisen, um ihrem Freund Otto Hahn zu dessen 80. Geburtstag am 8. März 1959 persönlich und öffentlich zu gratulieren:
„Dein 80. Geburtstag wird Dir Beweise aus der ganzen Welt dafür bringen, dass Du als Mensch und Wissenschaftler die Liebe, Verehrung und Dankbarkeit von mindestens zwei Generationen der Menschen erworben hast und ein sehr schwer erreichbares Vorbild der jüngsten Generation bist. Mögest Du das noch lange in Gesundheit und Freude geniessen. – In alter Freundschaft, Deine Lise“[35]
1960 übersiedelte Lise Meitner zu ihrem Neffen Otto Robert Frisch nach Cambridge, wo sie bis zu ihrem Tod für eine friedliche Nutzung der Kernspaltung eintrat. Wenige Monate nach Otto Hahn starb Lise Meitner im Alter von 89 Jahren am 27. Oktober 1968 und wurde in Bramley (Hampshire) beigesetzt.[36] Von ihrem Neffen Otto Frisch stammt die Inschrift auf dem Grabstein:
„A physicist who never lost her humanity“
„Eine Physikerin, die nie ihre Menschlichkeit verlor“
Lise Meitners Werk wird sehr häufig auf die erste, Anfang 1939 zusammen mit Otto Frisch formulierte, physikalisch-theoretische Deutung der Kernspaltung reduziert. Diese war zweifellos von großer Bedeutung für die Entwicklung der militärischen und friedlichen Nutzung der Kernenergie, wurde aber bereits im Herbst 1939 durch eine umfassende Theorie der Kernspaltung (The mechanism of nuclear fission) von Niels Bohr und John Archibald Wheeler ersetzt.
Lise Meitner beobachtete die Verwendung der Kernenergie für Waffensysteme äußerst kritisch. Sie ähnelte darin ihrem langjährigen Partner Otto Hahn und anderen Pionieren der Kernphysik wie etwa Albert Einstein (der jedoch, auf Vorschlag von Leó Szilárd, Präsident Roosevelt dringend zum Bau der US-Atombombe aufforderte). Lise Meitner selbst hat allerdings nie irgendeinen öffentlichen Friedensappell initiiert oder unterzeichnet, obwohl sie mehrfach darum gebeten wurde, und sich mit persönlichen Äußerungen zu den Themen ‚Atombombe, Kernwaffentests, nukleare Verseuchung usw.‘ immer zurückgehalten.
Neben den allgemein bekannten Arbeiten erweiterte Lise Meitner vor allem die Kenntnis über das Wesen der Radioaktivität. Die meisten ihrer Arbeiten waren Untersuchungen der Radioaktivität, insbesondere der Alpha- und Betastrahlung. Dabei konzentrierte sie sich auf die Wirkung dieser Strahlen auf verschiedene Materialien. Sie entdeckte gemeinsam mit Otto Hahn eine Reihe radioaktiver Isotope, darunter Protactinium 231, Actinium C und Thorium D.
Wesentliche Beiträge lieferte Lise Meitner auch zum Verständnis des Aufbaus der Atomkerne sowie der Energiefreisetzung beim radioaktiven Zerfall. Gemeinsam mit Otto Frisch veröffentlichte sie eine Reihe von Werken, die die physikalischen Grundlagen der Kernphysik erklärten und beleuchteten. Besonders in den Jahren nach 1945 konzentrierte sie sich daneben zunehmend auf gesellschaftliche Fragen der Atomphysik und stellte die Entwicklung der Kernwaffen und die militärische Nutzung der Kernenergie in Frage.
Über das Privatleben von Lise Meitner ist wenig bekannt, einigen Aufschluss darüber erhält man immerhin aus den veröffentlichten Briefen an bzw. von Elisabeth Schiemann, Otto Hahn und Max von Laue. Nach Aussagen von Otto Hahn und Max Planck war sie extrem zielgerichtet bei ihren Untersuchungen und arbeitete sehr hart, um Lösungen zu finden und Ergebnisse zu bekommen. Sie liebte die Natur und zog sich zum Nachdenken über theoretische Probleme gerne in den Wald zurück. Neben ihrer Forschung galt ihr persönliches, aber doch sehr zurückhaltendes Engagement vor allem dem Einsatz für den Frieden, der bedachten Nutzung der Kernenergie sowie der Gleichberechtigung der Frauen in den Wissenschaften. Sie selbst sagte einmal:
„Ich liebe Physik, ich kann sie mir schwer aus meinem Leben wegdenken. Es ist so eine Art persönlicher Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt. Und ich, die ich so sehr an schlechtem Gewissen leide, bin Physikerin ohne jedes böse Gewissen.“
Einen Eindruck von ihrem vertraulichen Verhältnis zu Otto Hahn gibt ein oft zitierter, allerdings unbewiesener Ausspruch Meitners in einem persönlichen Gespräch mit Hahn:
„Hähnchen, von Physik verstehst Du nichts, geh nach oben!“[37]
Bis zu ihrem Tod erhielt Lise Meitner 21 wissenschaftliche (darunter 5 Dr. h. c.[38], 12-mal Mitglied verschiedener Akademien) und öffentliche Auszeichnungen für ihr Werk und ihr Leben. Im Jahr 1926 wurde Meitner zum Mitglied der Leopoldina[39] und der Göttinger Akademie der Wissenschaften[40] gewählt. 1947 erhielt sie den Ehrenpreis der Stadt Wien für Wissenschaft. Sie war das erste weibliche Mitglied der naturwissenschaftlichen Klasse der österreichischen Akademie der Wissenschaften und wurde 1955 auswärtiges Mitglied der Royal Society in London, mit dem Recht, die Abkürzung FMRS (Foreign Member of the Royal Society) hinter ihrem Namen anzufügen.
1949 erhielt sie gemeinsam mit Otto Hahn die Max-Planck-Medaille, 1955 den Otto-Hahn-Preis für Chemie und Physik und 1957 von Bundespräsident Theodor Heuss die bedeutendste deutsche Auszeichnung, den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste. Ebenfalls 1957 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin verliehen.[41] 1960 wurde sie in die American Academy of Arts and Sciences gewählt.
Im selben Jahr wurde ihr die Wilhelm-Exner-Medaille verliehen, und 1966 erhielt sie zusammen mit Otto Hahn und Fritz Straßmann den Enrico-Fermi-Preis der amerikanischen Atomenergie-Kommission.
1967 wurde sie mit dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.
Lise Meitner wurde insgesamt 48-mal für den Nobelpreis nominiert, aber eine Auszeichnung blieb ihr versagt. Es gingen von 1937 bis 1965 insgesamt 29 Nominierungen für den Physikpreis ein, in den Jahren 1924 bis 1948 insgesamt 19 Nominierungen für den Chemiepreis. Unter den Einsendern der Nominierungen findet sich 1948 eine von Otto Hahn, der 1945 für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Kernspaltung mit dem Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1944 geehrt wurde.[42] Am häufigsten nominierte sie Max Planck, der sechs Nominierungen für den Chemiepreis und eine für den Physikpreis einsandte. Zu den Unterstützern, die sie mehr als zweimal nominierten, gehörten ferner James Franck (fünf Nominierungen für Physik), Oskar Klein (drei Nominierungen für Physik, eine für Chemie), Max Born (drei Nominierungen für Physik) und Niels Bohr (zwei Nominierungen für Chemie, eine für Physik).[43]
Zusammen mit Otto Hahn war sie 1959 Namensgeberin des Hahn-Meitner-Instituts für Kernforschung in Berlin.
Das Land Nordrhein-Westfalen vergibt seit 1991 das Lise-Meitner-Stipendium für habilitierende Frauen.[44]
Das chemische Element Meitnerium wurde 1997 nach ihr benannt.
Auch weitere öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Straßen wurden in zahlreichen Städten nach ihr benannt.
Die Internationale Astronomische Union ehrte sie durch die Benennung des Asteroiden (6999) Meitner[45] und eines Kraters auf dem Erdmond und auf der Venus.
2008 wurde der ABC-Abwehrschule des Österreichischen Bundesheeres der Traditionsname Lise Meitner verliehen.
Seit 2008 veranstalten die Deutsche Physikalische Gesellschaft und die Österreichische Physikalische Gesellschaft alljährlich die Lise-Meitner-Lecture.
Der Lise-Meitner-Preis für Kernphysik der Europäischen Physikalischen Gesellschaft ist nach ihr benannt, ferner gibt es einen Lise-Meitner-Literaturpreis.
Der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterhält das Lise-Meitner-Programm zur Förderung ausländischer Wissenschaftler in Österreich.[46]
Am 12. Juli 2010 wurde in Berlin-Mitte, Hessische Straße 1, eine Berliner Gedenktafel angebracht und am 10. Juli 2014 im Ehrenhof der Humboldt-Universität zu Berlin mit einem Festakt das Meitner-Denkmal enthüllt.[47] Weiterhin wurde das Gebäude des Instituts für Physik der Humboldt-Universität nach ihr benannt.[48]
Im Juni 2016 wurde sie mit einer Büste im Arkadenhof der Universität Wien geehrt.[49][50]
Im Jahr 2018 richtete die Max-Planck-Gesellschaft ein „Lise-Meitner-Exzellenzprogramm“ ein, das Wissenschaftlerinnen fördern soll.[51]
1991 wurde sie als erste Frau mit einer Büste im Ehrensaal im Deutschen Museum in München geehrt.[52]
In Würdigung ihrer Leistungen als Wissenschaftlerin und Forscherin wurde ihr anlässlich der Wissensstadt Berlin 2021 im Rahmen der Ausstellung „Berlin – Hauptstadt der Wissenschaftlerinnen“ eine Ausstellungstafel gewidmet.[53][54]
Zu ihren Doktoranden gehörte Rudolf Jaeckel.
Lise Meitner veröffentlichte 169 Arbeiten,[55] eine kleine Auswahl davon soll hier vorgestellt werden:
Personendaten | |
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NAME | Meitner, Lise |
ALTERNATIVNAMEN | Meitner, Elise |
KURZBESCHREIBUNG | österreichische Kernphysikerin |
GEBURTSDATUM | 7. November 1878 |
GEBURTSORT | Wien |
STERBEDATUM | 27. Oktober 1968 |
STERBEORT | Cambridge, England |