Die Perkolationstheorie (lat. percolare – durchsickern) beschreibt das Ausbilden zusammenhängender Gebiete (Cluster) bei zufallsbedingtem Besetzen von Strukturen (Gittern).
Mit der Perkolationstheorie können Phänomene wie die elektrische Leitfähigkeit von Legierungen, Ausbreitungen von Epidemien und Waldbränden oder Wachstumsmodelle beschrieben werden. In der Geologie und Hydrologie beschreibt die Perkolation einfache Modelle zur Ausbreitung von Flüssigkeiten in porösem Gestein (siehe Perkolation (Technik)), die als anschauliche Beispiele der unten beschriebenen Clusterbildung dienen.
Unterarten sind die Punktperkolation, bei der Gitterpunkte mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit besetzt werden, und die Kantenperkolation, bei der besetzte Punkte untereinander verbunden werden. Man kann sich beliebige zufällig erzeugte Objekte, z. B. Tröpfchen, vorstellen, die untersucht werden.
Eine Perkolation kann im einfachsten Fall wie folgt definiert werden. Auf einem großen Gitter eines bestimmten Typs jeder Standort unabhängig entweder besetzt, mit einer Wahrscheinlichkeit von $ p $ oder leer mit einer Wahrscheinlichkeit $ 1-p $. Die besetzten Stellen bilden Cluster, die das Gitter ausfüllen. Die Fragestellung der Perkolationstheorie ist: Was ist die Mindestwahrscheinlichkeits $ p_{c} $, so dass ein großer Cluster vorhanden ist, das das ganze Gitter überspannt?
Eine etwas andere Version von Perkolation ist folgende: Unter der Annahme, dass eine Kante zwischen zwei Knoten vorhanden ist mit der Wahrscheinlichkeit $ p $ - was ist die kritische Wahrscheinlichkeit für ein aufspannendes Cluster? Diese Version heißt Kantenperkolation, während die erstere als Knotenperkolation genannt wird. Es werden auch Kombinationen von beiden Arten der Perkolation untersucht. Seit 1957 spielen Computersimulationen eine entscheidende Rolle in der Perkolationstheorie. Obwohl viele interessante Größen heute genau bekannt sind, lieferten Simulationen in vielen Fällen die notwendige Intuition, um sie zu bestimmen, und die meisten interessanten Größen sind immer noch nur durch Simulationen insgesamt zugänglich. Perkolationsmodelle können in einer Vielzahl verschiedener Systeme verwendet werden.[1]
Historisch geht die Perkolationstheorie (englisch percolation theory) auf Paul Flory und Walter H. Stockmayer zurück, welche die Flory-Stockmayer Theorie in den 1940er Jahren entwickelten, um Polymerisationsprozesse bei der Gelierung zu beschreiben. Der Polymerisationsprozess kommt durch das Aneinanderreihen von Molekülen zustande, die dadurch Makromoleküle bilden. Der Verbund solcher Makromoleküle führt zu einem Netzwerk von Verbindungen, die sich durch das ganze System ziehen können. Broadbent und Hammersley führten das moderne Konzept der Perkolation ein[2]. Ein anderes Modell zur Beschreibung von Zufallsgraphen ist das Erdős–Rényi Modell.
Perkolationen werden auf Gittern modelliert, wobei Kristallgitter Interpretationen mathematischer Gitter sind.
Allgemein lässt sich ein einfaches Modell für die „Knoten-“ oder „Platzperkolation“ konstruieren:
Die Felder eines zweidimensionalen Quadratgitters werden mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit besetzt. Ob ein Feld besetzt wird oder leer bleibt, ist unabhängig von der Besetzung aller anderen Felder. Des Weiteren wird das Gitter als so groß angenommen, dass Randeffekte vernachlässigt werden können und ist im Idealfall unendlich groß. Abhängig von der gegebenen Verteilung werden sich Gruppen auf dem Gitter bilden, d. h. besetzte Felder in unmittelbarer Nachbarschaft. Diese Gruppen – als Cluster bezeichnet – werden umso größer sein, je größer die Wahrscheinlichkeit zur Besetzung eines Feldes ist. Die Perkolationstheorie beschäftigt sich nun mit Eigenschaften wie Größe oder Anzahl dieser Cluster.
Wenn $ p $ die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Feld besetzt ist, so bilden sich mit dem Ansteigen von $ p $ größere Cluster aus. Die Perkolationsschwelle $ p_{c} $ ist definiert als der Wert von $ p $, bei dem mindestens ein Cluster eine Größe erreicht, dass er sich durch das gesamte System erstreckt, also eine Ausdehnung auf dem Gitter von der rechten zur linken und von der oberen zur unteren Seite hat. Man sagt: „Der Cluster perkoliert durch das System“.
Das Gegenstück dazu wird „Kantenperkolation“ (englisch bond percolation) genannt.
Ein Gitter, z. B. oben genanntes Quadratgitter, ist vollständig besetzt, und von jedem Feld des Gitters bestehen vier Verbindungen zu den jeweils vier Nachbarfeldern. Nun ist mit einer Wahrscheinlichkeit $ p $ eine Verbindung zu einem Nachbarfeld geöffnet und mit einer Wahrscheinlichkeit $ 1-p $ die Verbindung geschlossen. Diese Art der Perkolation lässt sich gut mit dem oben genannten Modell in der Geologie vergleichen: die Hohlräume in einem porösen Gestein sind mit Wasser gefüllt und durch ein Netzwerk von Kanälen verbunden; mit einer Wahrscheinlichkeit $ p $ besteht ein Kanal zwischen zwei nächsten Nachbarn, und mit einer Wahrscheinlichkeit von $ 1-p $ besteht keiner.
Ein Cluster ist dann definiert als Gruppe von Gitterplätzen, die durch offene Kanäle verbunden sind. Auch hier ist $ p_{c} $ wieder die Perkolationsschwelle, und für $ p>p_{c} $ gibt es einen Cluster, der durch das gesamte System perkoliert, während ein solcher Cluster bei $ p<p_{c} $ nicht existiert. Die Perkolationsschwelle ist bei der Kantenperkolation niedriger als bei Systemen, welche sich entsprechend der Knotenperkolation verhalten. Das gilt für alle Gittertypen.
Gittertyp[3][4] | Knotenperkolationsschwelle | Kantenperkolationsschwelle |
---|---|---|
Sechseckgitter | 0,6962 | 0,6527… = 1 − 2 sin (π/18)[5] |
Quadratgitter | 0,592746 | 0,5 |
Dreiecksgitter | 0,5 | 0,34729… = 2 sin (π/18)[5] |
Diamantgitter | 0,43 | 0,388 |
einfach kubisches Gitter | 0,3116 | 0,2488 |
BCC 1. | 0,246 | 0,1803 |
FCC | 0,198 | 0,119 |
Hyperkubisches Gitter (4d) | 0,197 | 0,1601 |
Hyperkubisches Gitter (5d) | 0,141 | 0,1182 |
Hyperkubisches Gitter (6d) | 0,107 | 0,0942 |
Hyperkubisches Gitter (7d) | 0,089 | 0,0787 |
Ein Cluster der Größe $ s $ entsteht, wenn benachbarte $ s $ Plätze nebeneinander besetzt sind, die von zwei leeren Plätzen begrenzt werden. Wenn die Größe des Clusters gegen unendlich geht, können die Effekte der Ränder ignoriert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Platz auf der linken Seite des Clusters besetzt ist, ist dann $ n_{s}(p)=(1-p)^{2}\cdot p^{s} $.
Für $ p<p_{c} $ ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein beliebiger Platz zu einem endlichen Cluster gehört, gleich der Wahrscheinlichkeit $ p $, dass der Platz besetzt ist. Weil die Wahrscheinlichkeit, dass eine beliebiger Platz zu einem $ s $-Cluster gehört, gegeben ist durch $ s\cdot n_{s}(p) $, erhält man für $ p<p_{c} $ mithilfe der geometrische Reihe
also $ \sum _{s=1}^{\infty }s\cdot n_{s}(p)=p $. Für die mittlere Größe $ S(p) $ des Clusters ergibt sich $ S(p)={\frac {1+p}{1-p}} $.
Die Stärke $ P(p) $ des unendlichen Clusters ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein beliebiger Platz zum Cluster gehört. Die Stärke misst, wie groß der Anteil der Plätze des unendlichen Gitters ist, die zum unendlichen Cluster gehören, und wird Ordnungsparameter (englisch order parameter) genannt. Das Phänomen, dass der Ordnungsparameter für $ p>p_{c} $ größer als 0 wird, ist als Phasenübergang bekannt und $ p=p_{c} $ wird als kritische Besetzungswahrscheinlichkeit (englisch critical occupation probability) bezeichnet.
Ein besetzter Platz gehört entweder zum unendlichen Cluster oder zu einem endlichen Cluster. Daher gilt
für alle $ p $. Daraus folgt
Der Term $ O(p-p_{c}) $ ist höchstens von der Größenordnung $ p-p_{c} $ (siehe Landau-Symbole). Die Summe läuft über alle endlichen Clustergrößen $ s $ und schließt das unendliche Cluster aus. Für $ p<p_{c} $ ist $ P(p)=0 $.[6]
Die gerichtete Perkolation (englisch directed percolation) lässt sich anschaulich mit einer Kaffeemaschine (englisch coffee percolator) oder porösem Gestein erklären.
Anhand der bond-Perkolation wird der Unterschied zwischen „normaler“ bzw. isotroper Perkolation und der gerichteten Perkolation klar.
Wenn Wasser auf ein poröses Medium gegossen wird, stellt sich die Frage, ob das Medium durchdrungen werden kann, d. h. ob es einen Kanal von der Oberseite zur Unterseite des Mediums gibt, oder ob das Wasser vom Medium absorbiert wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Wasser auf einen offenen Kanal trifft, ist wie bei einer isotropen Perkolation gegeben durch $ p $. Im Gegensatz zur isotropen Perkolation existiert jedoch eine gegebene Vorzugsrichtung: Wasser in porösem Gestein wie auch in der Kaffeemaschine bewegt sich in die Richtung, die durch die Gravitation bestimmt wird. Die Perkolationsschwelle $ p_{c} $ ist bei der gerichteten Perkolation größer als bei der isotropen Perkolation.
Um Finite-Size-Effekte und den Phasenübergang zu studieren, müssen die betreffenden Observables für einen großen Bereich der Wahrscheinlichkeit $ p $ bestimmt werden, wenn nicht für eine kontinuierliche Nachbarschaft der Mindestwahrscheinlichkeit $ p_{c} $ des gesamten Einheitsintervalls. Diese Aufgabe kann erheblich vereinfacht werden, indem man vom kanonischen bis zum mikrokanonischen Ensemble wechselt.
Wenn jede der $ N $ Kanten des Gitters mit Wahrscheinlichkeit $ p $ besetzt ist und mit Wahrscheinlichkeit $ 1-p $ leer ist, spricht man auch von einem kanonischen Emsenble. Wenn genau $ n $ Kanten des Gitters besetzt sind, spricht man auch von einem mikrokanonischen Ensemble. Wenn $ Q(p) $ ein Observable im kanonischen Ensemble ist, dann wird das entsprechende Observable im mikrokanonischen Ensemble mit $ Q_{n} $ bezeichnet. Das gewünschte Observable kann durch eine Faltung mit der Binomialverteilung erhalten werden. Diese kann wie folgt geschrieben werden:
Unter Verwendung des mikrokanonischen Ensembles ist es somit möglich, $ Q(p) $ für alle $ p $ auf einmal zu bestimmen und dies, indem nur $ N+1 $ Werte gemessen werden.[1]
Für die Anwendung in der Epidemiologie kann man sich für den Erreger empfängliche Individuen als Knoten und Kontakt zwischen den Individuen als Kanten vorstellen. Ab einer bestimmten Populationsdichte, wenn es genügend Kontakte zwischen den Individuen gibt, würde die Perkolationsschwelle überschritten, sich also große, zusammenhängende Cluster bilden, die zu einer Ausbreitung des Erregers auf größere Bereiche der Population führen. Empirisch wurde die Existenz einer solchen Perkolationsschwelle anhand der Großen Rennmaus gezeigt, deren Kolonien unterschiedliche Populationsdichten aufweisen.[7]
Im täglichen Leben kommen viele perkolationsartige Phasenübergänge vor, z. B. das „Puddingproblem“ (Gel-Bildung[8]), das „Sahnesteif-Problem“ und das Problem der „Verklumpung“. In allen Fällen geht die Wirkung erst bei Überschreiten eines kritischen Wertes des ursächlichen Parameters gegen das erwünschte oder unerwünschte Maximum, und zwar meist nach einem Potenzgesetz mit einem kritischen Exponenten, wobei die maximale Wirkung bei Überschreiten des kritischen Wertes zunächst sehr rasch ansteigt. Durch chemische Zusätze, etwa Pudding- oder „Sahnesteif“-Pulver, kann man den kritischen Wert herabsetzen, ohne allerdings das Prinzip zu ändern.