Ein seltsamer Attraktor ist ein Attraktor, also ein Ort im Phasenraum, der den Endzustand eines dynamischen Prozesses darstellt, dessen fraktale Dimension nicht ganzzahlig und dessen Kolmogorov-Entropie echt positiv ist. Es handelt sich damit um ein Fraktal, das nicht in geschlossener Form geometrisch beschrieben werden kann. Gelegentlich wird auch der Begriff chaotischer Attraktor bevorzugt, da die „Seltsamkeit“ dieses Objekts sich mit den Mitteln der Chaostheorie erklären lässt. Der dynamische Prozess zeigt ein aperiodisches Verhalten.
Der Begriff seltsamer Attraktor lässt sich zurückverfolgen auf einen Artikel von David Ruelle und Floris Takens aus dem Jahr 1971, der den mathematischen Hintergrund der Entstehung turbulenter Strömungen zum Thema hatte. Bereits seit 1963 war der Lorenz-Attraktor bekannt, ein mathematisches Gebilde, das bei der Modellierung von Luftströmungen unter dem Einfluss von Temperaturdifferenzen entdeckt wurde.
Zur Beschreibung dynamischer Vorgänge wurden schon vorher Attraktoren untersucht. Diese stellte man sich aber meist als klassische geometrische Gebilde vor, beispielsweise Punkte oder zyklisch durchlaufene Linien. Azyklische Attraktoren kannte man zwar auch, hielt sie aber für Sonderfälle, Anomalien, die nur bei einer bestimmten Wahl von Parametern auftreten können.
Mit der Einführung des Konzeptes des seltsamen Attraktors war es möglich, die Gesetzmäßigkeiten chaotischen Verhaltens in dynamischen Systemen besser zu verstehen und quantitativ zu beschreiben. Dieses Verhalten, beispielsweise turbulente Strömungen von Flüssigkeiten und Gasen, das sich durch fehlende Periodizität und sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen (Schmetterlingseffekt) auszeichnet, entzog sich vorher durch seine Komplexität einer analytischen Betrachtung. Mit Konstruktionen wie den seltsamen Attraktoren gelingt es, ein deterministisches, aber dennoch nicht vorhersagbares Verhalten (deterministisches Chaos) mathematisch zu beschreiben.
Von einem seltsamen Attraktor spricht man, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
An einigen klassischen Beispielen lassen sich die Eigenschaften seltsamer Attraktoren recht gut studieren. Das verwendete dynamische System kann diskret oder kontinuierlich sein. Kontinuierliche Systeme werden meist durch Differentialgleichungen beschrieben, im Phasenraum bilden diese Systeme eine vom Ausgangszustand ausgehende Linie, die Trajektorie. Wegen der Eindeutigkeit der Ableitung können sich Trajektorien in keinem Punkt schneiden. Daraus lässt sich folgern, dass Attraktoren in zwei Dimensionen nur eine einfache Struktur aufweisen können; seltsame Attraktoren und damit chaotische Systeme gibt es in kontinuierlichen dynamischen Systemen erst bei einem Phasenraum mit mindestens drei Dimensionen.
Ein relativ einfaches Beispiel für einen seltsamen Attraktor ist der Hénon-Attraktor (benannt nach Michel Hénon), der als diskretes System im zweidimensionalen Raum durch folgende Gleichungen definiert ist:
Jeder Abbildungsschritt lässt sich in drei Teilschritte zerlegen: Eine Falt-Streck-Operation durch Addition von
Betrachtet man die Umgebung eines Punktes auf dem Attraktor, d. h. eine Kreisscheibe mit kleinem Durchmesser, so wird diese durch einen Abbildungsschritt in eine langgezogene Ellipse überführt, die entlang der Linien des Attraktors gestreckt ist, durch den Kontraktionsschritt aber eine geringere Fläche besitzt. Durch fortgesetzte Anwendung der Abbildungsvorschrift überdeckt das Abbild der Punktumgebung immer größere Bereiche des Attraktors, während seine Fläche gegen Null geht.
Der Rössler-Attraktor (im Jahr 1976 von Otto Rössler entdeckt) ist im dreidimensionalen Raum durch folgendes System von Differentialgleichungen definiert:
Der Rössler-Attraktor wurde definiert, um die Phänomene des damals schon länger bekannten Lorenz-Attraktors an einem einfacheren Beispiel studieren zu können. Die Dynamik des zugrundeliegenden Systems lässt sich wie folgt veranschaulichen: Grundsätzlich laufen die Trajektorien in der xy-Ebene auf einer Kreisbahn gegen den Uhrzeigersinn um den Nullpunkt und bilden dort ein fest begrenztes flaches Band. Das Band verbreitert sich in seinem Verlauf, im Bereich hoher
Auch hier wird die fraktale Struktur durch eine unendliche Folge von Streck- und Faltoperationen erzeugt. Betrachtet man die Trajektorien von zwei nahe beieinanderliegenden Punkten, so werden diese eine Zeit lang relativ nahe nebeneinander verlaufen, durch die Streckung aber zunehmend auseinanderlaufen, bis einmal der Punkt erreicht ist, dass eine Trajektorie auf dem flachen Teil verläuft, die andere dagegen auf dem darüber gefalteten. Damit ist ein Zusammenhang beider Trajektorien nicht mehr gegeben, wir haben es mit chaotischem Verhalten zu tun.
Der Lorenz-Attraktor wurde 1963 von Edward N. Lorenz bei der Modellierung von Luftströmungen entdeckt. Er ist durch folgendes Gleichungssystem definiert:
Die drei Parameter sind durch das zugrundeliegende physikalische Modell bedingt und wurden von Lorenz vorgegeben mit
Der Attraktor ist symmetrisch zur
Um das Verhalten eines dynamischen Systems quantitativ zu beschreiben, werden meist die Ljapunow-Exponenten herangezogen. Diese beschreiben das dynamische Verhalten der Umgebung eines Punktes auf dem Attraktor: Zunächst erwartet man, dass ein Punkt der Umgebung vom Attraktor angezogen wird, das wird durch einen negativen Ljapunow-Exponenten ausgedrückt, dessen Betrag ein Maß für die Stärke der Anziehung ist. Handelt es sich um einen seltsamen Attraktor, so wird, wie an den Beispielen zu sehen, ein Abstoßen nahe beieinanderliegender Punkte beobachtet, was einem positiven Ljapunow-Exponent entspricht. In der Tat ist das Verhalten abhängig von der Richtung, die die beiden Punkte zueinander haben. Stellt man sich die Umgebung eines Punktes als Kreisscheibe oder Kugel vor, so wird diese im weiteren Verlauf zu einem verschmälerten und verlängerten Abbild deformiert. Um dies abzubilden, besitzt ein dynamisches System so viele Ljapunow-Exponenten wie Dimensionen des Phasenraums.
Führt man
definiert.
Der erste Ljapunow-Exponent gibt immer den Wert der größten Fehlerverstärkung, also der stärksten Abstoßung an. Dies wird durch Bestimmung des Grenzwertes für
Bei der numerischen Berechnung des ersten Ljapunow-Exponenten muss eine Vorkehrung getroffen werden, um tatsächlich beliebig viele Schritte ausführen zu können: Nach jedem Schritt wird eine Renormierung ausgeführt, d. h. der neu berechnete gestörte Punkt wird vor dem nächsten Schritt ersetzt durch einen Punkt, der vom ungestörten Punkt aus die gleiche Richtung besitzt, aber die gleiche Entfernung wie vor dem Berechnungsschritt. Dadurch wird vermieden, dass die Verstärkung des Anfangsfehlers eine Größenordnung erreicht, bei der geometrische Eigenschaften des Attraktors, der ohnehin eine endliche Ausdehnung hat, das Ergebnis verfälschen.
Die weiteren Ljapunow-Exponenten werden analog definiert: Ist
Eine wichtige Kennzahl für ein Fraktal, und damit für einen seltsamen Attraktor, ist die Dimension. Es gibt mehrere Möglichkeiten, den Begriff der Dimension, die in der klassischen Geometrie nur ganzzahlige Werte annehmen kann, auf Fraktale zu erweitern. Notwendigerweise müssen alle diese Definitionen bei klassischen geometrischen Objekten deren bekannte Dimension ergeben, also beispielsweise 1 für Linien und 2 für Flächen. Für ein Fraktal können verschiedene Definitionen der fraktalen Dimension aber durchaus auch unterschiedliche Werte ergeben.
Am häufigsten wird für Fraktale die Boxdimension angewendet. Grundidee ist die Unterteilung des umgebenden Raumes in gleich große Raumelemente („Boxen“), deren Seitenlänge bei jedem Schritt verkleinert wird. Es wird abgezählt, in wie vielen dieser Raumelemente ein Teil des Fraktales liegt. Für die Seitenlänge s sei diese Anzahl N(s), zu erwarten ist dann folgende Beziehung:
Für die Berechnung der Dimension eines seltsamen Attraktors erweist sich diese Methode aber als nicht sehr hilfreich. Je geringer die Seitenlänge, desto mehr Raumelemente kommen in Betracht, es müssen sehr viele Berechnungsschritte des Attraktors ausgeführt werden, ohne dass man weiß, ob bereits alle Raumelemente erfasst sind, in denen der Attraktor liegt. Gerade in den Größenbereichen, die eigentlich zunehmend genauere Werte liefern sollten, steigt der Berechnungsfehler an.
Um die Probleme mit der Boxdimension zumindest teilweise in den Griff zu bekommen, kann man diesen Dimensionsbegriff etwas verfeinern. Zählt bei der Boxdimension nur, ob in einem Raumelement überhaupt ein Teil des Fraktals liegt, so wird jetzt zunächst die Größe dieses Anteils (es ist nicht besonders sinnvoll, hier von Flächen- oder Rauminhalten zu sprechen) bestimmt. Im Fall des seltsamen Attraktors lässt sich das einfach durch Abzählen der Iterationsschritte erledigen, deren Endpunkt im betreffenden Raumelement liegt. Dieser Anteil (eine Zahl zwischen 0 und 1) wird als natürliches Maß bezeichnet. Die Information, gemessen in Bits, dass ein bestimmter Punkt des Attraktors in einem bestimmten Raumelement
Die Informationsdimension
Es handelt sich hierbei um den Mittelwert der Information für die einzelnen Raumelemente, gewichtet nach deren natürlichem Maß, bzw. um den Mittelwert der Information aller berechneten Punkte des Attraktors.
Raumelemente, die erst sehr spät im Laufe der Berechnung als Bestandteil des Attraktors erkannt werden, enthalten auch nur einen geringen Anteil des Attraktors und liefern nur wenig zur Gesamtinformation des Systems. Damit wird der Rechenfehler durch frühzeitigen Abbruch der Berechnung im Gegensatz zur Bestimmung der Boxdimension stark reduziert.
Die Informationsdimension ist nicht immer gleich der Boxdimension, es gilt die Ungleichung
Ein weiterer Dimensionsbegriff basiert auf der Vermutung von Kaplan-Yorke. Diese Vermutung behauptet, dass die Informationsdimension identisch ist mit der Ljapunow-Dimension, einer Größe, die sich relativ einfach aus den Ljapunow-Exponenten berechnen lässt. Zur Bestimmung dieser Ljapunow-Dimension zeichnet man in einem Koordinatensystem über jedem n den Wert
Die Bedeutung der Ljapunow-Dimension liegt in der Möglichkeit ihrer numerischen Berechnung. Während die Bestimmung der Box- und der Informationsdimension besonders bei höherdimensionalen Phasenräumen bald an ihre Grenzen stößt, ist die Bestimmung von Ljapunow-Exponenten und damit der Ljapunow-Dimension auch dann noch oft möglich.
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