Als Tychonisches Weltsystem oder Tychonisches Weltmodell (auch -Weltbild, -Planetenmodell) wird ein nach Tycho Brahe benanntes Modell des Sonnensystems bezeichnet, welches damals mit der Vorstellung vom Universum gleichgesetzt wurde. Der später in Prag als kaiserlicher Hofmathematiker[1] tätige Däne beschrieb dieses Modell erstmals 1588 in der Schrift De Mundi Aetherei …[2] als Kompromiss zwischen den „Peripatetikern“, d. h. Lehrern der Physik von Aristoteles nebst der Astronomie von Ptolemaeus, und dem Heliozentrismus, vertreten von Nikolaus Kopernikus.[3]
Tycho Brahes Modell ist ein geozentrisches Weltsystem, das aber die anderen Planeten um die Sonne laufen lässt, und daher auch geo-heliozentrisch genannt wird.[4] Mond und Sonne kreisen um die Erde; Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn jedoch um die sich bewegende Sonne. Es steht damit zwischen den Systemen von Ptolemaeus und Kopernikus und vermeidet den damals zu kühnen Schritt, der Erde eine Bewegung zuzuweisen, wie es z. B. Galileo Galilei tat. Dennoch sind die Planetenschleifen schlüssig erklärbar, ebenso wie alle neuen, mit dem Fernrohr entdeckten Phänomene wie Venusphasen und veränderliche Größe der Planetenscheiben.
Ein fast identisches Planetenmodell stammt von Nicolaus Reimers (Ursus), der mit Brahe, seinem Nachfolger als Hofmathematiker, darüber in einen Prioritätsstreit geriet. Nach Reimers Angaben erdachte er sein Modell 1585 nach einem Besuch auf Tycho Brahes Insel Hven. Im Folgejahr habe er es in Kassel vorgestellt, wovon Brahe erfahren habe. Reimers’ Veröffentlichung Fundamentum Astronomicum (1588) erfolgte etwa zeitgleich.
Unterschied: Während Brahe der Erde keinerlei Bewegung zutraut (eindeutig überliefert in Briefen an Christoph Rothmann)[5], dreht sie sich bei Reimers um sich selbst, was die tägliche Bewegung des gesamten Kosmos „abschafft“ und eine Vorstellung eines sehr großen, wenn nicht sogar unendlichen, Fixsternhimmels wie bei Thomas Digges zulässt.
Auch Paul Wittich hat das geo-heliozentrische Weltbild vertreten, eventuell angeregt von dem Werk Primae de coelo et terra institutiones. (Venedig 1573) von Valentin Naibod. Dort findet sich das nach Martianus Capella benannte System, in dem sich „schon“ Merkur und Venus um die Sonne drehen.[6] Athanasius Kircher nennt dieses Modell ägyptisch.[7]
Bereits Kopernikus selbst schrieb in De revolutionibus orbium coelestium:
„… Deshalb scheint mir durchaus nicht unbeachtenswerth, was Martianus Capella, welcher eine Encyclopädie geschrieben hat, und einige andere Lateiner sehr wohl wussten. Er glaubt nämlich, dass Venus und Merkur die Sonne als ihren Mittelpunkt umkreisen, und deswegen von ihr nicht weiter weggehen können, als es die Kreise ihrer Bahnen erlauben, weil sie die Erde nicht wie die andern umkreisen, sondern wechselnd-wiederkehrende Abstände haben. Was will dies Anderes bedeuten, als dass dieselben um die Sonne, als um den Mittelpunkt ihrer Bahnen, kreisen? So würde denn in der That die Bahn Merkur’s von derjenigen der Venus, welche mehr als doppelt so gross ist, umschlossen, und fände in der Ausdehnung dieser die ihr genügende Stelle. Nimmt man hiervon Gelegenheit, und bezieht Saturn, Jupiter und Mars auf denselben Mittelpunkt, während man die grosse Ausdehnung ihrer Bahnen in’s Auge fasst, welche mit Jenen auch die darin liegende Erde enthält und umschliesst: so wird man die Erklärung der regelmässigen Ordnung ihrer Bewegungen nicht verfehlen…“[8]
Weiterhin beschrieben Helisäus Röslin 1597 und Simon Marius 1609/10 ebenfalls ein geoheliozentrisches System. Letzterer angeregt durch seine (mit Galilei zeitgleiche) Entdeckung der Jupitermonde. Er schrieb darüber 1614 in seinem Werk Mundus Iovialis.
In Indien wurde um 1500 ein ähnliches Modell von Nilakantha Somayaji entwickelt.
Einige Jahrzehnte lang wurde das Tychonische Modell von vielen Wissenschaftlern öffentlich favorisiert – ob auch aus innerer Überzeugung, ist nicht sicher feststellbar. Bekannte Vertreter des Modells oder ähnlicher Varianten[9] waren die Jesuiten Kircher, Christoph Clavius, Giovanni Riccioli, dessen Kollege Francesco Maria Grimaldi und verschiedene Universitätsprofessoren in Oberitalien.
Riccioli behandelte das Tychonische Planetenmodell ausführlich in seinem 1651 erschienenen „Neuen Almagest“, in dem er unter anderem die Galileischen Fallgesetze übernahm, sie aber experimentell als Beweis gegen die These einer bewegten Erde benützte. In der Astronomia reformata von 1665 erkannte Riccioli die Ellipse als mathematisches Modell zur Beschreibung der Planetenbahnen an.[10]
Johannes Kepler, der Tycho Brahes Assistent in Prag war, hielt das Tychonische System für eine Fiktion, was dessen Misstrauen auf seinen präsumptiven Nachfolger vermehrte.
Kepler beschrieb den Unterschied zu seinem System in seiner Harmonice mundi so: „…wie wenn einer, der auf einem Papier einen Kreis beschreibt, den Schreibstift des Zirkels herumbewegt, ein anderer aber [Tycho Brahe], der das Papier oder die Tafel auf einer Drehscheibe befestigt, den Stift oder Griffel des Zirkels festhält und den gleichen Kreis auf der rotierenden Tafel beschreibt.“[11]
Isaac Newtons Principia mit seiner Gravitationstheorie erschien 1687 und im 18. Jahrhundert wurde die Masseabhängigkeit der Bewegungen zunehmend anerkannt[12], wobei in England auch schon vor Newton die Kopernikaner in der Royal Society dominant waren.[13] Robert Hooke, der sich mit Newton um die Priorität des Gravitationsgesetzes stritt, zeigte Verständnis für die Geozentriker und sah in der jährlichen Sternparallaxe das Experimentum crucis zur Entscheidung zwischen den Systemen und glaubte dies geschafft zu haben.[14]
Die allgemein anerkannten Beweise für die Heliozentrik ließen lange auf sich warten. James Bradley entdeckte 1728 bei dem Versuch, eine Parallaxe der „Fixsterne“ zu messen, dass die Position jedes Sterns im Laufe des Jahres schwankt, und Friedrich Wilhelm Bessel gelang 1838 schließlich der lange, schon in der Antike gesuchte „Königsbeweis“.
Erst der Pendelversuch von Léon Foucault überzeugte 1851 die letzten Zweifler.[15]