Doppelter Betazerfall: Unterschied zwischen den Versionen

Doppelter Betazerfall: Unterschied zwischen den Versionen

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Der '''doppelte Betazerfall''' bezeichnet den gleichzeitigen [[Betazerfall]] zweier [[Nukleon]]en in einem [[Atomkern]]. Es werden zwei verschiedene Zerfallsmodi diskutiert: der Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall und der experimentell noch nicht nachgewiesene neutrinolose Doppel-Betazerfall.
Der '''doppelte Betazerfall''' ist der gleichzeitige [[Betazerfall]] zweier [[Nukleon]]en in einem [[Atomkern]]. Zu unterscheiden sind der Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall (beobachtet) und der hypothetische [[Neutrinoloser doppelter Betazerfall|neutrinolose Doppel-Betazerfall]].


== Voraussetzungen ==
== Voraussetzungen ==


[[Datei:Doppelbeta-massenparabel.png|mini|Beispiel für die energetische Unmöglichkeit eines einfachen Beta-Zerfalls]]
[[Datei:Doppelbeta-massenparabel.png|mini|hochkant=1.6|Massen ''m'' verschiedener [[Isobar (Kernphysik)|isobarer]] Atomkerne als Funktion der [[Ordnungszahl]] ''Z'': energetische Unmöglichkeit mancher einfachen Beta-Zerfälle (rot)]]


Der doppelte Betazerfall ist ein „Prozess zweiter Ordnung“, d. h. seine [[Zerfallswahrscheinlichkeit]] ist allgemein sehr viel kleiner (die entsprechende [[Halbwertszeit]] also viel länger) als für den einfachen Betazerfall.
Der doppelte Betazerfall ist ein Prozess zweiter Ordnung. Seine [[Zerfallswahrscheinlichkeit]] ist um viele Größenordnungen kleiner, seine [[partielle Halbwertszeit]] damit um viele Größenordnungen länger als die des einfachen Betazerfalls. Er ist experimentell nur bei Nukliden beobachtbar, für die ein einfacher Betazerfall nicht möglich („verboten“) ist, denn sonst wird er von diesem viele Größenordnungen häufigeren Prozess verdeckt.


Experimentell ''beobachtbar'' ist er nur bei Nukliden, für die der einfache Betazerfall energetisch verboten ist. Dies ist für gg-Kerne (gerade Protonenanzahl und gerade Neutronenanzahl) der Fall, deren Grundzustände energetisch niedriger liegen als die ihrer uu-Nachbarn (ungerade Protonenzahl und ungerade Neutronenzahl). Ausgehend von der [[Bethe-Weizsäcker-Formel]] lassen sich die [[Bindungsenergie]]n von Kernen gleicher [[Massenzahl]], also [[Isobar (Kernphysik)|Isobaren]], als quadratische Funktion der Kernladungszahl ''Z'' darstellen. Im Falle von uu- und gg-Kernen ergibt sich aufgrund des Paarungsterms eine Aufspaltung in zwei Parabeln, und die Parabel der uu-Kerne liegt oberhalb der Parabel der gg-Kerne. Der einfache Betazerfall eines gg-Kerns führt zum benachbarten uu-Kern; liegt dieser energetisch höher als der gg-Mutterkern, ist der einfache Beta-Zerfall also energetisch verboten. Da der betrachtete gg-Kern aber nicht das stabilste Isobar der "Massenkette" ist, kann ein doppelter Betazerfall in den nächstgelegenen gg-Kern energetisch stattfinden (siehe auch [[Mattauchsche Isobarenregel]]).
Unmöglich ist der einfache Betazerfall z. B. für einen gg-Kern (gerade Protonenanzahl und gerade Neutronenanzahl), wenn er in seinem Grundzustand weniger Energie hat als jeder seiner beiden uu-Nachbarn (ungerade Protonenzahl und ungerade Neutronenzahl). Ausgehend von der [[Bethe-Weizsäcker-Formel]] lassen sich die Massen von Kernen gleicher [[Massenzahl]], also [[Isobar (Kernphysik)|Isobaren]], als quadratische Funktion der Kernladungszahl ''Z'' darstellen (siehe Abbildung). Im Falle von uu- und gg-Kernen ergibt sich aufgrund des Paarungsterms eine Aufspaltung in zwei Parabeln, und die Parabel der uu-Kerne liegt oberhalb der Parabel der gg-Kerne. Ein einfacher Beta-plus- oder Beta-minus-Zerfall eines gg-Kerns muss zum entsprechenden benachbarten uu-Kern führen; liegen diese beide energetisch höher als der gg-Mutterkern, ist ein einfacher Beta-Zerfall also energetisch verboten. Falls der betrachtete gg-Kern aber nicht das stabilste Isobar der "Massenkette" ist, kann ein doppelter Betazerfall in den nächstgelegenen gg-Kern energetisch stattfinden (siehe auch [[Mattauchsche Isobarenregel]]).


Bei einigen Nukliden verhindert überdies eine Drehimpulsdifferenz zwischen Mutter- und Tochterkern einen Betazerfall, obwohl dieser energetisch möglich wäre. Ein Beispiel hierfür ist <sup>96</sup>[[Zirconium|Zr]]: sein Zerfall in den Grundzustand des benachbarten uu-Kerns (<sup>96</sup>[[Niob|Nb]]) ist zwar energetisch erlaubt, aufgrund der Drehimpulse der beteiligten Zustände jedoch stark unterdrückt.
Statt einer Energiedifferenz kann auch die [[Spin]]differenz zwischen Mutter- und Tochterkern einen einfachen Betazerfall behindern, z.&nbsp;B. bei <sup>96</sup>[[Zirconium|Zr]]. Sein Beta-minus-Zerfall in den Grundzustand des benachbarten uu-Kerns (<sup>96</sup>[[Niob|Nb]]) ist zwar energetisch möglich, wegen des Spinunterschiedes zwischen den beiden Kernen jedoch stark unterdrückt.


== Beobachtungen ==
== Beobachtungen ==


Der erste nachgewiesene doppelte Betazerfall war der Übergang von <sup>82</sup>[[Selen|Se]] in <sup>82</sup>[[Krypton|Kr]]. Er wurde 1967 indirekt durch geochemische Experimente ([[Till Kirsten]] und andere) und 1987 direkt ([[Michael K. Moe]] u.&nbsp;a.) beobachtet.  
Der erste nachgewiesene doppelte Betazerfall war der Übergang von <sup>82</sup>[[Selen|Se]] in <sup>82</sup>[[Krypton|Kr]]. Er wurde 1967 indirekt durch geochemische Untersuchungen ([[Till Kirsten]] et al.) und 1987 direkt ([[Michael K. Moe]] u.&nbsp;a.) nachgewiesen.


Insgesamt sind etwa 35 Nuklide bekannt, bei denen der doppelte Betazerfall erwartet wird. Beobachtet wurde er bis einschließlich 2016 an zwölf Nukliden: Calcium-48,<ref>{{Cite journal
Insgesamt sind 35 natürlich vorkommende Nuklide mit möglichem doppeltem Betazerfall bekannt. Bis 2016 wurde er bei 12 Nukliden (<sup>48</sup>Ca<ref>{{Cite journal
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== Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall ==
== Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall ==


Der Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall (2νββ-Zerfall) kann anschaulich interpretiert werden als der gleichzeitige [[Betazerfall|Beta-Minus-Zerfall]] zweier Neutronen in zwei Protonen unter Emission zweier Elektronen und zweier [[Antineutrino]]s.  
Der Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall (2νββ-Zerfall) kann anschaulich interpretiert werden als der gleichzeitige [[Betazerfall|Beta-Minus-Zerfall]] zweier Neutronen in zwei Protonen unter Emission zweier Elektronen und zweier [[Antineutrino]]s. „Gleichzeitig“ könnte dabei so verstanden werden, dass der Zerfall über einen virtuellen, im Sinne der [[Energie-Zeit-Unschärferelation]] genügend kurzlebigen Zwischenzustand abläuft: der Ausgangskern geht durch β-Zerfall in den Zwischenkern über (energetisch verboten, daher virtuell) und dieser durch einen weiteren β-Zerfall in den Tochterkern.


Der entgegengesetzte Zerfall von zwei Protonen in zwei Neutronen ist ebenfalls möglich und wurde beim Krypton-78 nachgewiesen (s. oben). Er kann auf drei verschiedene Weisen ablaufen: zwei [[Elektroneneinfang]]s-Prozesse oder – wenn energetisch möglich – zwei [[Betazerfall|Beta-Plus-Zerfälle]] oder ein Elektroneneinfang und ein Beta-Plus-Zerfall.  
Der entgegengesetzte Zerfall von zwei Protonen in zwei Neutronen ist ebenfalls möglich und wurde beim <sup>78</sup>Kr nachgewiesen (s. oben). Er kann auf drei verschiedene Weisen ablaufen: [[doppelter Elektroneneinfang]] oder – wenn energetisch möglich – zwei [[Betazerfall|Beta-Plus-Zerfälle]] oder ein Elektroneneinfang und ein Beta-Plus-Zerfall.


Bei jedem 2νββ-Zerfall bleibt die [[Leptonenzahl]] erhalten, weshalb dieser Zerfallsmodus innerhalb des [[Standardmodell]]s der Kern- und Teilchenphysik erlaubt ist.
Bei jedem 2νββ-Zerfall bleibt die [[Leptonenzahl]] erhalten, weshalb dieser Zerfallsmodus innerhalb des [[Standardmodell]]s der Kern- und Teilchenphysik „erlaubt“ ist.
 
Ein anderer Ansatz zur Veranschaulichung des doppelten Betazerfalls ist die Vorstellung, dass der Zerfall über einen virtuellen, im Sinne der [[Energie-Zeit-Unschärferelation]] genügend kurzlebigen Zwischenzustand abläuft: der Ausgangskern geht durch β-Zerfall in den Zwischenkern über (energetisch verboten, daher virtuell) und dieser durch einen weiteren β-Zerfall in den eigentlichen Tochterkern. Mit Hilfe von [[Ladungsaustauschreaktion]]en kann der Übergang in den Zwischenzustand experimentell untersucht werden.
 
Die beobachteten [[Halbwertszeit]]en für 2νββ-Zerfälle liegen im Bereich um etwa 10<sup>19</sup> bis 10<sup>24</sup> Jahre.


== Neutrinoloser Doppel-Betazerfall ==
== Neutrinoloser Doppel-Betazerfall ==
{{Main|Neutrinoloser doppelter Betazerfall}}


Beim neutrinolosen Doppel-Betazerfall (0νββ) müsste sich die [[Leptonenzahl]] um zwei Einheiten ändern. Aus diesem Grund ist er nach dem Standardmodell der Kern- und Teilchenphysik verboten. Eine Beobachtung seines Auftretens wäre ein Nachweis für „Physik jenseits des Standardmodells“.
Beim neutrinolosen Doppel-Betazerfall (0νββ), einem denkbaren zusätzlichen [[Zerfallskanal]] der genannten 35 Nuklide, müsste sich die [[Leptonenzahl]] um zwei Einheiten ändern. Aus diesem Grund ist er nach dem Standardmodell der Kern- und Teilchenphysik „verboten“. Eine Beobachtung seines Auftretens wäre ein Nachweis für „Physik jenseits des Standardmodells“.
 
Messungen solcher Zerfälle würden außerdem eine Möglichkeit zur direkten Messung von Neutrinomassen bieten. Bisher sind die Matrixelemente, die zur Bestimmung der Neutrinomasse benötigt werden, experimentell nicht zugänglich und können nur in theoretischen Modellrechnungen bestimmt werden. Diese Rechnungen hängen jedoch in hohem Maße vom verwendeten physikalischen Modell ab und variieren untereinander um einen Faktor 3.
 
Zur Unterscheidung des 0νββ- vom 2νββ-Zerfall misst man das Summenenergiespektrum der emittierten Elektronen. Da im Gegensatz zum 2νββ-Fall keine Neutrinos emittiert werden, ist dieses nicht kontinuierlich, sondern muss eine dem 2νββ-Spektrum überlagerte „Spektrallinie“ ergeben, einen festen Wert, der dem Energiegewinn des Zerfalls entspricht.
 
Auch der 0νββ-Zerfall kann anschaulich als gleichzeitiger Zerfall zweier Neutronen in zwei Protonen verstanden werden. Im Unterschied zum 2νββ-Zerfall verlassen die Neutrinos aber nicht den Kern, sondern [[Paarvernichtung|annihilieren]], d. h. „vernichten“ sich gegenseitig innerhalb des Kerns.
 
Eine andere Betrachtungsweise bietet auch hier der Zerfall über virtuelle Zwischenzustände. Ein Neutron zerfällt unter Emission eines Elektrons und eines Antineutrinos in einen virtuellen Zwischenzustand; das Antineutrino verlässt nicht den Kern, sondern wird von einem anderen Neutron (als Neutrino) absorbiert, welches dann ebenfalls unter Emission eines Elektrons in ein Proton zerfällt.
 
Für das Auftreten des 0νββ-Zerfalls müssen zwei Bedingungen erfüllt sein:
# Das Neutrino ist ein [[Majorana-Fermion]], denn nur dann ist die gegenseitige Annihilation zweier gleicher Neutrinos möglich.
# Zwischen den Vertizes muss eine Helizitätsanpassung stattfinden. Diese wiederum kann durch zwei Möglichkeiten realisiert werden:
#* Das Neutrino hat eine von Null verschiedene Masse &nbsp;oder
#* der leptonische schwache Strom enthält eine rechtshändige Komponente.


2006 berichtete eine Arbeitsgruppe (Teil der Kollaboration des [[Heidelberg-Moskau-Experiment]]s, Sprecher [[Hans Klapdor-Kleingrothaus]]) über eine Beobachtung des neutrinolosen Zerfallsmodus von <sup>76</sup>Ge mit 6,4&nbsp;[[Empirische Standardabweichung|σ]] [[Statistische Signifikanz|Signifikanz]]<ref name="KK06">{{Literatur | Autor = H. V. Klapdor-Kleingrothaus und I. V. Krivoshenia | Titel = The Evidence for the Observation of 0νββ Decay: The Identification of 0νββ Events from the Full Spectra | Sammelwerk = Modern Physics Letters A | Band = 20 | Jahr = 2006 | Seiten = 1547-1566 | DOI = 10.1142/S0217732306020937 | Online = http://www.klapdor-k.de/POSITIVE-EVID/SUPER-NEW-2007/MPLA2120pg15470-1566.pdf}}</ref>; das Ergebnis ist damit signifikant von Null verschieden (die akzeptierte Vertrauensgrenze ist fünf Standardabweichungen<ref>[http://klapdor-k.de/Results/Final%20Result0607.htm#6%20SIGMA H. V. Klapdor-Kleingrothaus und I. V. Krivoshenia]</ref>). Trotzdem wird das Ergebnis wegen der angewendeten Analysemethoden und der kleinen Zahl beobachteter Ereignisse kontrovers diskutiert.  
Messungen solcher Zerfälle würden außerdem eine Möglichkeit zur direkten Messung von Neutrinomassen bieten. Bisher sind die Matrixelemente, die zur Bestimmung der Neutrinomasse benötigt werden, experimentell nicht zugänglich und können nur in theoretischen Modellrechnungen bestimmt werden.


Das [[GERDA-Experiment]] hat in seiner ersten Messphase von 2011 bis 2013 keinen Hinweis auf den neutrinolosen Doppel-Betazerfall in <sup>76</sup>Ge gefunden (Untergrenze für die [[partielle Halbwertszeit]] dieses Zerfalls: 2,1&nbsp;·&nbsp;10<sup>25</sup> Jahre) und konnte damit die vorgenannten Ergebnisse nicht bestätigen.<ref>M. Agostini u.&nbsp;a.: [http://arxiv.org/abs/1307.4720 ''Results on neutrinoless double beta decay of 76Ge from GERDA Phase I'']. Englisch. Archiv der Cornell University Library. Online auf arxiv.org vom 16. Juli 2013.</ref> Auch in einer zweiten Phase des GERDA-Experiments mit verbesserter Empfindlichkeit konnte kein neutrinoloser doppelter Betazerfall beobachtet werden. Die neue Untergrenze der partiellen Halbwertszeit ist nun ''T''<sub>1/2</sub> = 5,3&nbsp;·&nbsp;10<sup>25</sup> Jahre (90% C.L.),<ref>{{Literatur |Autor=GERDA collaboration, M.Agostini et al. |Titel=Background-free search for neutrinoless double-β decay of 76Ge with GERDA  |Sammelwerk=Nature |Band=544 |Datum=2017-04-05 |Seiten=47 |Online=http://de.arxiv.org/abs/1703.00570 |DOI=10.1038/nature21717}}</ref> gegenüber der Halbwertszeit für den 2νββ-Zerfall dieses Nuklids von etwa 1,5&nbsp;·&nbsp;10<sup>21</sup> Jahren.
Ein neutrinoloser Doppel-Betazerfall konnte trotz aufwendiger Experimente bis heute (2020) nicht entdeckt werden.


== Weblinks ==
== Weblinks ==
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*[http://www.mpi-hd.mpg.de/ge76/ GERDA-Experiment]
*[http://www.mpi-hd.mpg.de/ge76/ GERDA-Experiment]
*[http://snoplus.phy.queensu.ca SNO+-Experiment]
*[http://snoplus.phy.queensu.ca SNO+-Experiment]
*[http://www.pro-physik.de/details/news/1477713/Palladium-110_und_die_Natur_der_Neutrinos.html Palladium-110 und die Natur der Neutrinos]


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==

Aktuelle Version vom 4. Dezember 2020, 20:20 Uhr

Der doppelte Betazerfall ist der gleichzeitige Betazerfall zweier Nukleonen in einem Atomkern. Zu unterscheiden sind der Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall (beobachtet) und der hypothetische neutrinolose Doppel-Betazerfall.

Voraussetzungen

Massen m verschiedener isobarer Atomkerne als Funktion der Ordnungszahl Z: energetische Unmöglichkeit mancher einfachen Beta-Zerfälle (rot)

Der doppelte Betazerfall ist ein Prozess zweiter Ordnung. Seine Zerfallswahrscheinlichkeit ist um viele Größenordnungen kleiner, seine partielle Halbwertszeit damit um viele Größenordnungen länger als die des einfachen Betazerfalls. Er ist experimentell nur bei Nukliden beobachtbar, für die ein einfacher Betazerfall nicht möglich („verboten“) ist, denn sonst wird er von diesem viele Größenordnungen häufigeren Prozess verdeckt.

Unmöglich ist der einfache Betazerfall z. B. für einen gg-Kern (gerade Protonenanzahl und gerade Neutronenanzahl), wenn er in seinem Grundzustand weniger Energie hat als jeder seiner beiden uu-Nachbarn (ungerade Protonenzahl und ungerade Neutronenzahl). Ausgehend von der Bethe-Weizsäcker-Formel lassen sich die Massen von Kernen gleicher Massenzahl, also Isobaren, als quadratische Funktion der Kernladungszahl Z darstellen (siehe Abbildung). Im Falle von uu- und gg-Kernen ergibt sich aufgrund des Paarungsterms eine Aufspaltung in zwei Parabeln, und die Parabel der uu-Kerne liegt oberhalb der Parabel der gg-Kerne. Ein einfacher Beta-plus- oder Beta-minus-Zerfall eines gg-Kerns muss zum entsprechenden benachbarten uu-Kern führen; liegen diese beide energetisch höher als der gg-Mutterkern, ist ein einfacher Beta-Zerfall also energetisch verboten. Falls der betrachtete gg-Kern aber nicht das stabilste Isobar der "Massenkette" ist, kann ein doppelter Betazerfall in den nächstgelegenen gg-Kern energetisch stattfinden (siehe auch Mattauchsche Isobarenregel).

Statt einer Energiedifferenz kann auch die Spindifferenz zwischen Mutter- und Tochterkern einen einfachen Betazerfall behindern, z. B. bei 96Zr. Sein Beta-minus-Zerfall in den Grundzustand des benachbarten uu-Kerns (96Nb) ist zwar energetisch möglich, wegen des Spinunterschiedes zwischen den beiden Kernen jedoch stark unterdrückt.

Beobachtungen

Der erste nachgewiesene doppelte Betazerfall war der Übergang von 82Se in 82Kr. Er wurde 1967 indirekt durch geochemische Untersuchungen (Till Kirsten et al.) und 1987 direkt (Michael K. Moe u. a.) nachgewiesen.

Insgesamt sind 35 natürlich vorkommende Nuklide mit möglichem doppeltem Betazerfall bekannt. Bis 2016 wurde er bei 12 Nukliden (48Ca[1], 76Ge, 78Kr, 82Se, 96Zr, 100Mo, 116Cd, 128Te, 136Xe, 150Nd, 238U alle[2] und 130Te[3]) nachgewiesen. Die Halbwertszeiten liegen zwischen 1019 und 1025 Jahren.

Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall

Der Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall (2νββ-Zerfall) kann anschaulich interpretiert werden als der gleichzeitige Beta-Minus-Zerfall zweier Neutronen in zwei Protonen unter Emission zweier Elektronen und zweier Antineutrinos. „Gleichzeitig“ könnte dabei so verstanden werden, dass der Zerfall über einen virtuellen, im Sinne der Energie-Zeit-Unschärferelation genügend kurzlebigen Zwischenzustand abläuft: der Ausgangskern geht durch β-Zerfall in den Zwischenkern über (energetisch verboten, daher virtuell) und dieser durch einen weiteren β-Zerfall in den Tochterkern.

Der entgegengesetzte Zerfall von zwei Protonen in zwei Neutronen ist ebenfalls möglich und wurde beim 78Kr nachgewiesen (s. oben). Er kann auf drei verschiedene Weisen ablaufen: doppelter Elektroneneinfang oder – wenn energetisch möglich – zwei Beta-Plus-Zerfälle oder ein Elektroneneinfang und ein Beta-Plus-Zerfall.

Bei jedem 2νββ-Zerfall bleibt die Leptonenzahl erhalten, weshalb dieser Zerfallsmodus innerhalb des Standardmodells der Kern- und Teilchenphysik „erlaubt“ ist.

Neutrinoloser Doppel-Betazerfall

Beim neutrinolosen Doppel-Betazerfall (0νββ), einem denkbaren zusätzlichen Zerfallskanal der genannten 35 Nuklide, müsste sich die Leptonenzahl um zwei Einheiten ändern. Aus diesem Grund ist er nach dem Standardmodell der Kern- und Teilchenphysik „verboten“. Eine Beobachtung seines Auftretens wäre ein Nachweis für „Physik jenseits des Standardmodells“.

Messungen solcher Zerfälle würden außerdem eine Möglichkeit zur direkten Messung von Neutrinomassen bieten. Bisher sind die Matrixelemente, die zur Bestimmung der Neutrinomasse benötigt werden, experimentell nicht zugänglich und können nur in theoretischen Modellrechnungen bestimmt werden.

Ein neutrinoloser Doppel-Betazerfall konnte trotz aufwendiger Experimente bis heute (2020) nicht entdeckt werden.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. R. Arnold, et al.: Measurement of the double-beta decay half-life and search for the neutrinoless double-beta decay of 48Ca with the NEMO-3 detector. In: Physical Review D. 93. Jahrgang, 2016, S. 112008, doi:10.1103/PhysRevD.93.112008, arxiv:1604.01710, bibcode:2016PhRvD..93k2008A.
  2. C. Patrignani, et al.: Review of Particle Physics. In: Chinese Physics C. 40. Jahrgang, Nr. 10, 2016, S. 768, doi:10.1088/1674-1137/40/10/100001, bibcode:2016ChPhC..40j0001P.
  3. C. Alduino, et al.: Measurement of the Two-Neutrino Double Beta Decay Half-life of 130Te with the CUORE-0 Experiment. In: The European Physical Journal C. 77. Jahrgang, 2016, doi:10.1140/epjc/s10052-016-4498-6, arxiv:1609.01666, bibcode:2017EPJC...77...13A.