Das reziproke Gitter (lateinisch reciprocus ‚aufeinander bezüglich‘, ‚wechselseitig‘) ist eine Konstruktion der Kristallographie und Festkörperphysik.
In der Kristallographie beschreibt das reziproke Gitter die Röntgen-, Elektronen- und Neutronenbeugung an Kristallen, z. B. in der Laue-Bedingung. Das Röntgen-Beugungsbild eines Kristalls ist im Gegensatz zum mikroskopischen Bild nicht das direkte Bild des Kristallgitters selbst, sondern das Bild des reziproken Gitters, das dem Kristallgitter zugeordnet ist.[1]
In der Festkörperphysik wird das reziproke Gitter mit leicht veränderter Definition verwendet (Faktor $ 2\pi $) und als reziproker Raum bezeichnet. Als zugehöriger Fourierraum des Kristallgitters kommt ihm eine herausragende Bedeutung zu. Im Gegensatz zu den Vektoren des Kristallgitters haben die Vektoren des reziproken Gitters die Dimension einer inversen Länge.
Ein 3-dimensionales Punktgitter wird durch drei Basisvektoren $ {\vec {a}}_{1} $, $ {\vec {a}}_{2} $ und $ {\vec {a}}_{3} $ beschrieben. Dieses Gitter wird auch reales oder direktes Gitter genannt. Die Basisvektoren $ {\vec {b}}_{1} $, $ {\vec {b}}_{2} $ und $ {\vec {b}}_{3} $ des zu diesem Gitter reziproken Gitters ergeben sich aus den Gleichungen:
Kristallographie | Festkörperphysik |
---|---|
$ {\vec {b}}_{1}={\frac {{\vec {a}}_{2}\times {\vec {a}}_{3}}{{\vec {a}}_{1}\cdot ({\vec {a}}_{2}\times {\vec {a}}_{3})}} $ | $ {\vec {b}}_{1}=2\pi \,{\frac {{\vec {a}}_{2}\times {\vec {a}}_{3}}{{\vec {a}}_{1}\cdot ({\vec {a}}_{2}\times {\vec {a}}_{3})}} $ |
$ {\vec {b}}_{2}={\frac {{\vec {a}}_{3}\times {\vec {a}}_{1}}{{\vec {a}}_{1}\cdot ({\vec {a}}_{2}\times {\vec {a}}_{3})}} $ | $ {\vec {b}}_{2}=2\pi \,{\frac {{\vec {a}}_{3}\times {\vec {a}}_{1}}{{\vec {a}}_{1}\cdot ({\vec {a}}_{2}\times {\vec {a}}_{3})}} $ |
$ {\vec {b}}_{3}={\frac {{\vec {a}}_{1}\times {\vec {a}}_{2}}{{\vec {a}}_{1}\cdot ({\vec {a}}_{2}\times {\vec {a}}_{3})}} $ | $ {\vec {b}}_{3}=2\pi \,{\frac {{\vec {a}}_{1}\times {\vec {a}}_{2}}{{\vec {a}}_{1}\cdot ({\vec {a}}_{2}\times {\vec {a}}_{3})}} $ |
Hierbei ist $ {\vec {a}}_{1}\cdot ({\vec {a}}_{2}\times {\vec {a}}_{3}) $ das Volumen der Elementarzelle.
Damit gilt allgemein:
Der Unterschied zwischen beiden Definitionen hat seine Ursache in der unterschiedlichen Darstellung des Streuvorgangs:
Im Folgenden wird wenn nicht anders vermerkt die kristallographische Definition benutzt.
Trägt man die Basisvektoren des realen Gitters (in kartesischen Koordinaten) in die Spalten einer Matrix $ A $ ein, so lässt sich durch Transposition und Inversion eine Matrix $ B $ berechnen, die als Spalten die Basisvektoren des reziproken Gitters enthält.[2] In kristallographischer Definition (ohne den Faktor $ 2\pi $):
Reales Gitter | Reziprokes Gitter | ||
---|---|---|---|
Bezeichnung | Abk. | Bezeichnung | Abk. |
Primitiv | P | Primitiv | P |
Basiszentriert (Einseitig flächenzentriert) |
A, B, C | Basiszentriert (Einseitig flächenzentriert) |
A, B, C |
Flächenzentriert (Allseitig flächenzentriert) |
F | Innenzentriert (Raumzentriert) |
I |
Innenzentriert (Raumzentriert) |
I | Flächenzentriert (Allseitig flächenzentriert) |
F |
Ein Vektor (h,k,l) des reziproken Raums steht senkrecht auf der Schar von Netzebenen mit den Millerschen Indizes (hkl). Die Länge des Vektors ist gleich dem Reziproken des Abstandes der Netzebenen.
Daraus folgt, dass im reziproken Gitter auch die Punkte, deren Koordinaten ein gemeinsames Vielfaches besitzen, eine Bedeutung haben: die mit (100) und (200) bezeichneten Scharen von Netzebenen liegen parallel zueinander, die Netzebenen der Schar (200) haben aber nur halb so großen Abstand wie die der Schar (100).
Die Bragg-Gleichung liefert einen Zusammenhang zwischen dem Netzebenenabstand $ d_{hkl} $ und dem Beugungswinkel $ \vartheta $. Sie gilt nur, wenn der einfallende und der gestreute Strahl symmetrisch zur „reflektierenden“ Netzebenenschar $ (h,k,l) $ verlaufen, und lautet:
In dieser Form liefert sie keine Aussagen über die Richtungen der Netzebenen und der einfallenden und gestreuten Welle zueinander.
Beschreibt man die einfallende Welle mit $ {\vec {k}}_{0}={\frac {{\vec {e}}_{0}}{\lambda }} $ und die gestreute Welle mit $ {\vec {k}}_{s}={\frac {{\vec {e}}_{s}}{\lambda }} $, so erhält man die zur Bragg-Gleichung äquivalente Laue-Bedingung:
Dabei ist
Allgemein bedeutet diese Gleichung: ein Röntgenstrahl wird genau dann gestreut, wenn der Beugungsvektor $ {\vec {k}} $ gleich einem reziproken Gittervektor ist. Dieser Zusammenhang wird mit der Ewaldkugel anschaulich dargestellt.
Das polare Gitter („réseau polaire“) als Vorläufer des reziproken Gitters wurde bereits von Auguste Bravais im Rahmen seiner Arbeit über Punktgitter behandelt.[3][4]
Josiah Willard Gibbs führte 1881 den Begriff des reziproken Systems („reciprocal system“) als rein mathematische Konstruktion in seinem Buch Vector Analysis[5] ein.[6] Seine Definition ist identisch mit der oben angegebenen kristallographischen. Paul Peter Ewald war der erste, der dieses Gitter zur Beschreibung von Röntgenreflexen einsetzte.[7] Danach baute er die Theorie weiter aus.[8] Aber erst aufgrund einer Arbeit von John Desmond Bernal[9] wurde diese Konstruktion zur Beschreibung von Braggreflexen allgemein bekannt und etablierte sich.
In diesem Abschnitt werden die Wellenvektoren $ {\vec {k}}={\frac {2\pi }{\lambda }}{\vec {e}} $ wieder grundsätzlich mit einem Faktor $ 2\pi $ definiert und das Gleiche gilt für die Konventionen des reziproken Gitters.
Allgemein gilt, dass eine gitterperiodische Funktion:
mit den Gittervektoren $ {\vec {a}}_{i} $ eine Fourierzerlegung mit Wellenvektoren als Fourierkomponenten hat, die aus den Vektoren $ {\vec {G}}_{j} $ des reziproken Gitters bestehen:[10]
da wegen $ {\vec {G}}_{i}{\vec {a}}_{j}=2\pi \delta _{ij}\, $ gilt:
Dieser von den Vektoren des reziproken Gitters aufgespannte Raum der Wellenvektoren wird auch reziproker Raum genannt, häufig wird aber auch synonym die Bezeichnung reziprokes Gitter verwendet.
Als Fourierraum des Gitters kommt dem reziproken Raum eine fundamentale Bedeutung in der Festkörperphysik zu. Die Dimension der Vektoren des reziproken Raums ist die einer umgekehrten Länge. Die oben beschriebene Beugung von Röntgenstrahlen mit der Laue-Bedingung $ {\vec {k}}={\vec {k}}'+{\vec {G}} $ (mit den Wellenvektoren k, k' des Photons vor und nach der Streuung und dem reziproken Gittervektor G) liefert ein direktes Bild des reziproken Gitters.
Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung des reziproken Raums bzw. Gitters ist die Bloch-Funktion und der Satz von Bloch, dass die Lösungen der Schrödingergleichung im periodischen Potential des Gitters als Produkt einer ebenen Welle und einer gitterperiodischen Funktion $ u_{\vec {k}}({\vec {r}}) $ geschrieben werden können:
Da die Funktion $ u_{\vec {k}}({\vec {r}}) $ gitterperiodisch ist, kann sie als Fouriersumme über Vektoren des reziproken Gitters geschrieben werden.
Eine weitere Anwendung ist die Wechselwirkung von Quasiteilchen wie quantisierten Gitterschwingungen (Phononen). Diese besitzen einen Wellenvektor $ {\vec {k}} $ und einen Impuls $ \hbar {\vec {k}} $. Streut zum Beispiel ein Elektron mit Wellenvektor $ {\vec {k}} $ mit einem Phonon mit Wellenvektor $ {\vec {q}} $, so gilt folgende Auswahlregel:
wobei $ {\vec {G}} $ ein Vektor des reziproken Gitter ist.
Die Impulserhaltung gilt hier also bis auf Addition eines Vektors des reziproken Gitters, und die betrachteten Impulse heißen auch Quasi- oder Kristallimpulse.
Da im Gitter der Wellenvektor eines Quasiteilchens wie eines Phonons nur bis auf Vektoren des reziproken Gitters festgelegt wird, genügt es, die Wellenvektoren in der ersten Brillouin-Zone zu betrachten. Sie ist die Wigner-Seitz-Zelle des reziproken Gitters. In einer Dimension entspricht die erste Brillouinzone Wellenvektoren $ k<{\frac {\pi }{a}} $. Hat ein Phonon einen größeren Wellenvektor, so kann von ihm so oft ein Vektor $ \left({\frac {2\pi }{a}}\right) $ des reziproken Gitters abgezogen werden, bis der Wellenvektor im Bereich $ \pm {\frac {\pi }{a}} $ liegt, ohne dass sich an der Physik etwas ändert.