Der doppelte Betazerfall bezeichnet den gleichzeitigen Betazerfall zweier Nukleonen in einem Atomkern. Es werden zwei verschiedene Zerfallsmodi diskutiert: der Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall und der experimentell noch nicht nachgewiesene neutrinolose Doppel-Betazerfall.
Der doppelte Betazerfall ist ein „Prozess zweiter Ordnung“, d. h. seine Zerfallswahrscheinlichkeit ist allgemein sehr viel kleiner (die entsprechende Halbwertszeit also viel länger) als für den einfachen Betazerfall.
Experimentell beobachtbar ist er nur bei Nukliden, für die der einfache Betazerfall energetisch verboten ist. Dies ist für gg-Kerne (gerade Protonenanzahl und gerade Neutronenanzahl) der Fall, deren Grundzustände energetisch niedriger liegen als die ihrer uu-Nachbarn (ungerade Protonenzahl und ungerade Neutronenzahl). Ausgehend von der Bethe-Weizsäcker-Formel lassen sich die Bindungsenergien von Kernen gleicher Massenzahl, also Isobaren, als quadratische Funktion der Kernladungszahl Z darstellen. Im Falle von uu- und gg-Kernen ergibt sich aufgrund des Paarungsterms eine Aufspaltung in zwei Parabeln, und die Parabel der uu-Kerne liegt oberhalb der Parabel der gg-Kerne. Der einfache Betazerfall eines gg-Kerns führt zum benachbarten uu-Kern; liegt dieser energetisch höher als der gg-Mutterkern, ist der einfache Beta-Zerfall also energetisch verboten. Da der betrachtete gg-Kern aber nicht das stabilste Isobar der "Massenkette" ist, kann ein doppelter Betazerfall in den nächstgelegenen gg-Kern energetisch stattfinden (siehe auch Mattauchsche Isobarenregel).
Bei einigen Nukliden verhindert überdies eine Drehimpulsdifferenz zwischen Mutter- und Tochterkern einen Betazerfall, obwohl dieser energetisch möglich wäre. Ein Beispiel hierfür ist 96Zr: sein Zerfall in den Grundzustand des benachbarten uu-Kerns (96Nb) ist zwar energetisch erlaubt, aufgrund der Drehimpulse der beteiligten Zustände jedoch stark unterdrückt.
Der erste nachgewiesene doppelte Betazerfall war der Übergang von 82Se in 82Kr. Er wurde 1967 indirekt durch geochemische Experimente (Till Kirsten und andere) und 1987 direkt (Michael K. Moe u. a.) beobachtet.
Insgesamt sind etwa 35 Nuklide bekannt, bei denen der doppelte Betazerfall erwartet wird. Beobachtet wurde er bis einschließlich 2016 an zwölf Nukliden: Calcium-48,[1] Germanium-76,[2] Krypton-78,[2] Selen-82,[2] Zirconium-96,[2] Molybdän-100,[2] Cadmium-116,[2] Tellur-128,[2] Tellur-130,[3] Xenon-136,[2] Neodym-150,[2] Uran-238.[2] Die gemessenen Halbwertszeiten liegen zwischen 9,1×1018 und 7,2×1024 Jahren.
Der Zwei-Neutrino-Doppel-Betazerfall (2νββ-Zerfall) kann anschaulich interpretiert werden als der gleichzeitige Beta-Minus-Zerfall zweier Neutronen in zwei Protonen unter Emission zweier Elektronen und zweier Antineutrinos.
Der entgegengesetzte Zerfall von zwei Protonen in zwei Neutronen ist ebenfalls möglich und wurde beim Krypton-78 nachgewiesen (s. oben). Er kann auf drei verschiedene Weisen ablaufen: zwei Elektroneneinfangs-Prozesse oder – wenn energetisch möglich – zwei Beta-Plus-Zerfälle oder ein Elektroneneinfang und ein Beta-Plus-Zerfall.
Bei jedem 2νββ-Zerfall bleibt die Leptonenzahl erhalten, weshalb dieser Zerfallsmodus innerhalb des Standardmodells der Kern- und Teilchenphysik erlaubt ist.
Ein anderer Ansatz zur Veranschaulichung des doppelten Betazerfalls ist die Vorstellung, dass der Zerfall über einen virtuellen, im Sinne der Energie-Zeit-Unschärferelation genügend kurzlebigen Zwischenzustand abläuft: der Ausgangskern geht durch β-Zerfall in den Zwischenkern über (energetisch verboten, daher virtuell) und dieser durch einen weiteren β-Zerfall in den eigentlichen Tochterkern. Mit Hilfe von Ladungsaustauschreaktionen kann der Übergang in den Zwischenzustand experimentell untersucht werden.
Die beobachteten Halbwertszeiten für 2νββ-Zerfälle liegen im Bereich um etwa 1019 bis 1024 Jahre.
Beim neutrinolosen Doppel-Betazerfall (0νββ) müsste sich die Leptonenzahl um zwei Einheiten ändern. Aus diesem Grund ist er nach dem Standardmodell der Kern- und Teilchenphysik verboten. Eine Beobachtung seines Auftretens wäre ein Nachweis für „Physik jenseits des Standardmodells“.
Messungen solcher Zerfälle würden außerdem eine Möglichkeit zur direkten Messung von Neutrinomassen bieten. Bisher sind die Matrixelemente, die zur Bestimmung der Neutrinomasse benötigt werden, experimentell nicht zugänglich und können nur in theoretischen Modellrechnungen bestimmt werden. Diese Rechnungen hängen jedoch in hohem Maße vom verwendeten physikalischen Modell ab und variieren untereinander um einen Faktor 3.
Zur Unterscheidung des 0νββ- vom 2νββ-Zerfall misst man das Summenenergiespektrum der emittierten Elektronen. Da im Gegensatz zum 2νββ-Fall keine Neutrinos emittiert werden, ist dieses nicht kontinuierlich, sondern muss eine dem 2νββ-Spektrum überlagerte „Spektrallinie“ ergeben, einen festen Wert, der dem Energiegewinn des Zerfalls entspricht.
Auch der 0νββ-Zerfall kann anschaulich als gleichzeitiger Zerfall zweier Neutronen in zwei Protonen verstanden werden. Im Unterschied zum 2νββ-Zerfall verlassen die Neutrinos aber nicht den Kern, sondern annihilieren, d. h. „vernichten“ sich gegenseitig innerhalb des Kerns.
Eine andere Betrachtungsweise bietet auch hier der Zerfall über virtuelle Zwischenzustände. Ein Neutron zerfällt unter Emission eines Elektrons und eines Antineutrinos in einen virtuellen Zwischenzustand; das Antineutrino verlässt nicht den Kern, sondern wird von einem anderen Neutron (als Neutrino) absorbiert, welches dann ebenfalls unter Emission eines Elektrons in ein Proton zerfällt.
Für das Auftreten des 0νββ-Zerfalls müssen zwei Bedingungen erfüllt sein:
2006 berichtete eine Arbeitsgruppe (Teil der Kollaboration des Heidelberg-Moskau-Experiments, Sprecher Hans Klapdor-Kleingrothaus) über eine Beobachtung des neutrinolosen Zerfallsmodus von 76Ge mit 6,4 σ Signifikanz[4]; das Ergebnis ist damit signifikant von Null verschieden (die akzeptierte Vertrauensgrenze ist fünf Standardabweichungen[5]). Trotzdem wird das Ergebnis wegen der angewendeten Analysemethoden und der kleinen Zahl beobachteter Ereignisse kontrovers diskutiert.
Das GERDA-Experiment hat in seiner ersten Messphase von 2011 bis 2013 keinen Hinweis auf den neutrinolosen Doppel-Betazerfall in 76Ge gefunden (Untergrenze für die partielle Halbwertszeit dieses Zerfalls: 2,1 · 1025 Jahre) und konnte damit die vorgenannten Ergebnisse nicht bestätigen.[6] Auch in einer zweiten Phase des GERDA-Experiments mit verbesserter Empfindlichkeit konnte kein neutrinoloser doppelter Betazerfall beobachtet werden. Die neue Untergrenze der partiellen Halbwertszeit ist nun T1/2 = 5,3 · 1025 Jahre (90% C.L.),[7] gegenüber der Halbwertszeit für den 2νββ-Zerfall dieses Nuklids von etwa 1,5 · 1021 Jahren.