Mit dem Gesetz von Hagen-Poiseuille [poaː'zœj][1] (nach Gotthilf Heinrich Ludwig Hagen, 1797–1884 und Jean Léonard Marie Poiseuille, 1797–1869) wird der Volumenstrom $ {\dot {V}} $ – d. h. das geflossene Volumen V pro Zeiteinheit – bei einer laminaren stationären Strömung eines homogenen Newton’schen Fluids durch ein Rohr (Kapillare) mit dem Radius r und der Länge l beschrieben.
Das Gesetz lautet
mit
Variable | Bedeutung | SI-Einheit |
---|---|---|
$ {\dot {V}} $ | Volumenstrom durch das Rohr | $ {\frac {\rm {m^{3}}}{\rm {s}}} $ |
$ r $ | Innenradius des Rohres | m |
$ l $ | Länge des Rohres | m |
$ \eta $ | dynamische Viskosität der strömenden Flüssigkeit | Pa·s |
$ \Delta p $ | Druckdifferenz zwischen Anfang und Ende des Rohres | Pa |
z | Flussrichtung |
Dieses Gesetz folgt direkt aus dem stationären, parabolischen Strömungsprofil durch ein Rohr, das aus den Navier-Stokes-Gleichungen hergeleitet werden kann -- oder direkt aus der Definition der Viskosität, siehe unten. Bemerkenswert ist die Abhängigkeit des Volumendurchflusses von der vierten Potenz des Radius des Rohres. Dadurch hängt der Strömungswiderstand sehr stark vom Radius des Rohres ab, so würde beispielsweise eine Verringerung des Rohrdurchmessers auf die Hälfte den Strömungswiderstand auf das 16-fache erhöhen.
Das Gesetz gilt nur für laminare Strömungen. Bei größerem Durchfluss einer Rohrleitung, verbunden mit höheren Strömungsgeschwindigkeiten bzw. größeren Abmessungen, kommt es zu turbulenten Strömungen mit wesentlich höherem Strömungswiderstand als nach Hagen-Poiseuille zu erwarten wäre. Die konkreten Verhältnisse turbulenter Strömungen werden u. a. mit den Formeln von Blasius, Nikuradse bzw. Prandtl-Colebrook beschrieben.
In sehr dünnen Röhren, in denen die Grenzschicht maßgeblich das Strömungsprofil beeinflusst und nicht sehr klein gegenüber dem Radius ist, lässt sich dieses stark vereinfachte mathematische Modell der Strömung ebenfalls nicht anwenden.
Für kompressible Fluide (wie z. B. Gase) gilt ein modifiziertes Gesetz.
Hier ist die Überlegung, aus der das Hagen-Poiseuille-Gesetz und das ihr zugrundeliegende Strömungsprofil folgt: Bezeichne $ v(s) $ die Strömungsgeschwindigkeit an der Stelle $ s $ eines kreisförmigen Rohres mit Radius $ R $. Betrachten wir einen Hohlzylinder der Länge $ l $ und der Wanddicke $ ds $ zwischen den Radien $ s $ und $ s^{+}=s+ds $. Der Zylinder solle sich im Gleichgewichtszustand befinden, also keine Beschleunigung erfahren, daher ist die Summe aller auf die Flächen wirkenden Kräfte gleich null. Aus der Reibung auf die Außen- bzw. Innenfläche $ A^{+} $ bzw. $ A $ mit dem Haftreibungskoeffizienten $ \mu $ sowie der Druckdifferenz $ \Delta p $ auf die Hohlzylinder-Grundfläche $ dA=2\pi \,s\,ds $ ergibt sich die Kraftgleichung:
$ \mu (A^{+}dv^{+}-A\,dv)/ds+dA\Delta p=0 $.
Dabei ist $ \mu A^{+}dv^{+}/ds $ die Reibung mit dem nach außen benachbarten Strömungszylinder, der den Radius $ s+ds $ hat. Die Geschwindigkeitsdifferenz $ {\frac {dv^{+}}{ds}}={\frac {dv}{ds}}\vert _{s+ds} $ verteilt sich auf die Schichtdicke $ ds $ und wirkt entlang der Außenfläche $ A^{+}=2\pi s^{+}l $. Analog gilt dies für die Reibung an der Innenfläche mit dem nach innen benachbarten Strömungszylinder.
Im Grenzübergang $ ds\to 0 $ ergibt sich eine Differentialgleichung zweiter Ordnung für $ v(s) $:
$ {\begin{aligned}2\pi \,l\,\left(s+ds\right){\frac {dv}{ds}}\vert _{s+ds}-2\pi \,l\,s\,{\frac {dv}{ds}}\vert _{s}+{\frac {2\pi \,s\,ds\,\Delta p}{\mu }}&=0\\\left(s+ds\right){\frac {dv}{ds}}\vert _{s+ds}-s\,{\frac {dv}{ds}}+{\frac {s\,ds\,\Delta p}{\mu \,l}}&=0\\s\,{\frac {dv}{ds}}+s\,{\frac {d^{2}v}{ds^{2}}}\,ds+{\frac {ds\,dv}{ds}}+{\mathcal {O}}\left(ds^{2}\right)-s\,{\frac {dv}{ds}}+{\frac {s\,ds\,\Delta p}{\mu \,l}}&=0\\s\,{\frac {d^{2}v}{ds^{2}}}\,ds+{\frac {ds\,dv}{ds}}+{\frac {s\,ds\,\Delta p}{\mu \,l}}&=0\\{\frac {d^{2}v}{ds^{2}}}+{\frac {dv}{s\,ds}}+{\frac {\Delta p}{\mu \,l}}&=0\\\end{aligned}} $
Die Lösung muss die Randbedingung $ v(R)=0 $ erfüllen und ist dadurch eindeutig bestimmt:
$ v(s)={\frac {\Delta p}{4\mu \,l}}\,(R^{2}-s^{2}) $.
Dies ist genau das genannte quadratische Strömungsprofil. Durch Integration folgt dann das Gesetz von Hagen-Poiseuille:
$ {\dot {V}}=\int _{0}^{2\pi }\int _{0}^{R}v(s)s\,ds\,d\varphi ={\frac {\pi R^{4}}{8\mu }}{\frac {\Delta p}{l}} $.
Für einen Rechteck-Kanal mit den Abmessungen $ b $ und $ h $ lässt sich dieses Gesetz in der folgenden Form angeben:
Hierbei ist
Die Abweichung vom exakten Wert bei Berechnung von K in erster Näherung (n=1) beträgt maximal 0,67 %, in zweiter Näherung 0,06 %, in dritter Näherung 0,01 %.
Einige Beispielwerte, berechnet in dritter Näherung:
$ {\frac {\min(b,h)}{\max(b,h)}} $ | 0 | 1/10 | 1/5 | 1/4 | 1/3 | 1/2 | 2/3 | 1 |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
$ K $ | 1 | 0,9370 | 0,8740 | 0,8425 | 0,7900 | 0,6861 | 0,5873 | 0,4218 |
Formeln für weitere Querschnittsformen werden in vielen Lehrbüchern[2] hergeleitet.
Für elliptische Querschnitte ergibt sich
wobei $ a $ und $ b $ den minimalen und maximalen Durchmesser repräsentieren.
Man beachte den Spezialfall $ a=b=r $,
bei dem sich die Gleichung auf die Gleichung für zylindrische Röhren reduziert.
Im Gültigkeitsbereich des Gesetzes bewirkt etwa die Verengung eines runden Leitungsradius um 10 % einen Durchsatzrückgang um $ 1-0,9^{4}=34\% $. Um den ursprünglichen Durchfluss bei verkleinertem Radius wieder zu erreichen, muss somit die Druckdifferenz um über 52 % steigen.
Außerdem bildet das Gesetz von Hagen-Poiseuille die Grundlage einer Vielzahl von Modellgleichungen bei der Durchströmung von Schüttgütern.
Das Gesetz von Hagen-Poiseuille bezieht sich auf Newtonsche Flüssigkeiten. Bei Newtonschen Flüssigkeiten ist die Viskosität eine konstante Materialeigenschaft (und nur von der Temperatur abhängig). Ein Beispiel für eine solche Flüssigkeit ist Wasser. Das Blutplasma ist auch eine Newtonsche Flüssigkeit, nicht aber das Blut: Es ist eine inhomogene Suspension aus verschiedenen Zellen in Plasma. Hier ist die Viskosität von der Größe der Schubspannung (also der Strömungsgeschwindigkeit) abhängig. Weiterhin spielt auch die Deformierbarkeit der Erythrozyten eine Rolle. Diese können sich beispielsweise „geldrollenartig“ in dünnen Gefäßen aggregieren. Im Übrigen handelt es sich hier eher nicht um laminare, sondern turbulente Strömungszustände.
Dieses spezielle Fachgebiet der Rheologie des Blutes wird als Hämorheologie (englisch hemorheology) bezeichnet.