Myon (µ−) | |
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Klassifikation | |
Elementarteilchen Fermion Lepton | |
Eigenschaften [1] | |
Ladung | |
Masse | 0,113 428 9257(25) u 1,883 531 594(48) · 10−28 kg 206,768 2826(46) · me 105,658 3745(24) MeV/c2 |
Compton-Wellenlänge | 11,734 441 11(26) · 10−15 m |
magnetisches Moment | −4,490 448 26(10) · 10−26 J / T |
g-Faktor | −2,002 331 8418(13) |
Spin | 1/2 |
mittlere Lebensdauer | 2,196 981 1(2 2) · 10−6 s [2] |
Das Myon ist ein Elementarteilchen, das in vielen Eigenschaften dem Elektron ähnelt. Wie das Elektron besitzt es eine negative Elementarladung und einen Spin von 1⁄2. Myon und Elektron unterliegen der elektroschwachen, jedoch nicht der starken Wechselwirkung. Das Myon hat aber eine rund 200-mal größere Masse. Weiterhin zerfällt es im Unterschied zum Elektron spontan mit einer mittleren Lebensdauer von nur etwa 2,2 Mikrosekunden. Das Formelsymbol des Myons ist $ \mu ^{-} $. Das Antiteilchen des Myons ist das positive Myon oder Antimyon $ \mu ^{+} $. Es ist wie das Positron einfach positiv geladen.
Myonen wurden 1936 von Carl D. Anderson und Seth Neddermeyer bei der Untersuchung von kosmischer Strahlung entdeckt und unabhängig 1937 von J. Curry Street und E. C. Stevenson nachgewiesen (beide Gruppen veröffentlichten in derselben Physical-Review-Ausgabe 1937). Da zu ihrer Produktion eine Schwerpunktsenergie von ca. 106 MeV notwendig ist, entstehen sie weder bei radioaktivem Zerfall noch bei Kernwaffenexplosionen. Zur künstlichen Produktion werden Teilchenbeschleuniger benötigt.
Als Leptonen sind Elektron und Myon im Standardmodell verwandte Teilchen. Das Elektron wird zur ersten und das Myon zur zweiten der drei Leptonenfamilien gerechnet. Das entsprechende Teilchen der dritten Familie ist das 1975 entdeckte τ-Lepton.
Früher wurde das Myon als My-Meson bezeichnet. „Meson“ (griechisch, etwa das Mittlere) – noch früher auch „Mesotron“ – bedeutete damals „mittelschweres“ Teilchen, nämlich mit einer Masse zwischen Elektron und Proton. In den 1960er Jahren wurde aber die Bezeichnung Meson auf Teilchen mit starker Wechselwirkung eingeschränkt, zu denen das Myon als Lepton nicht gehört.
Myonen sind ein Hauptbestandteil der sekundären kosmischen Strahlung. Diese entsteht durch Reaktionen der eigentlichen kosmischen Strahlung (vor allem aus dem Weltall kommenden Protonen) mit Atomkernen der oberen Atmosphäre. Die meisten Myonen entstehen in der äußeren Atmosphäre: In einer Höhe von etwa 10 km sind schon 90 Prozent aller in der gesamten Atmosphäre produzierten Myonen entstanden.[3] Die Reaktionen der primären Strahlung erzeugen zunächst Pionen und zu einem kleineren Teil Kaonen; bei deren Zerfall durch die schwache Wechselwirkung entstehen unter anderem Myonen und Myon-Neutrinos. Die Teilchenflussdichte dieser „kosmischen“ Myonen in Meereshöhe ist etwa 100 pro Quadratmeter und Sekunde; das dort gemessene Zahlenverhältnis $ \mu ^{+}/\mu ^{-} $ beträgt etwa 1,27.[4]
Am Auger-Observatorium verdichteten sich 2016 die Hinweise auf einen durch gängige Modelle der Hochenergiephysik nicht erklärbaren Myonen-Überschuss in der kosmischen Strahlung, der entweder auf neue Physik hinweist (bei Primärenergien der kosmischen Strahlung von 1019 eV in der oberen Atmosphäre entspricht das Schwerpunktenergien der Kollision mit Luftmolekülen von 110 bis 170 TeV und damit dem Zehnfachen des beim LHC erreichbaren Werts) oder auf Lücken im Verständnis hadronischer Kollisionsprozesse.[5][6]
Myonen mit ihrer meist hohen kinetischen Energie erzeugen in Materie durch viele aufeinander folgende Stöße lange Ionisationsspuren, die zur Detektion dienen können. Da sie sich meist mit nahezu Lichtgeschwindigkeit bewegen, erzeugen sie z. B. in Wasser Tscherenkow-Strahlung.
Auch Szintillatoren und Halbleiterdetektoren sind auf Myonen empfindlich. Die Myonen aus der sekundären kosmischen Strahlung beispielsweise machen in Gammaspektrometern oft den Hauptteil des Nulleffekts aus, denn sie können wegen ihrer hohen Energie mehrere Meter Blei durchdringen und sind im Labor daher kaum abschirmbar.
In Experimenten der Teilchenphysik werden Myonen von anderen Teilchen durch verschiedene Techniken unterschieden:
Das freie Myon zerfällt gemäß dem rechts abgebildeten Feynman-Diagramm in ein Myon-Neutrino, ein Elektron-Antineutrino und ein Elektron:
Den Zerfall des Antimyons erhält man durch den Austausch aller Teilchen durch das jeweilige Antiteilchen:
Zusätzlich entsteht mit einer Wahrscheinlichkeit von 1,4 ± 0,4 Prozent Gammastrahlung (Photonen):
und mit einer Wahrscheinlichkeit von (3,4 ± 0,4) · 10−3 Prozent [7] ein Elektron-Positron-Paar:
Dem Standardmodell zufolge wird der Zerfall des Myons durch ein W-Boson (siehe auch Boson) vermittelt.
Die experimentell bestimmte mittlere Lebensdauer des positiven Myons beträgt 2,196 981 1 (2 2) µs. Das negative Myon hat in Materie einen zusätzlichen Zerfallskanal: Es kann mit einem Atomkern ein myonisches Atom bilden und anschließend entsprechend dem K-Einfang eines Elektrons vom Kern absorbiert werden. Dabei wird ein Proton zu einem Neutron, und ein Myon-Neutrino wird emittiert. Deswegen ist in Materie die experimentell bestimmbare mittlere Lebensdauer des negativen Myons kürzer. Im Vakuum, ohne diesen zusätzlichen Zerfallskanal, stimmen die gemessenen Lebensdauern von positivem und negativem Myon auf 0,1 Prozent genau überein.[8]
Die Zeitdilatation bewegter Teilchen ermöglicht es den in der oberen Atmosphäre entstehenden Myonen, trotz ihrer kurzen Halbwertszeit von 1,523 µs die Erdoberfläche zu erreichen (siehe Sekundäre kosmische Strahlung). Ohne diesen relativistischen Effekt wären selbst bei Bewegung mit Lichtgeschwindigkeit nach rund 450 m die Hälfte aller Myonen schon wieder zerfallen.[9]
Die Lebensdauer von Myonen verschiedener Energie wurde erstmals 1940 durch Bruno Rossi und David B. Hall gemessen.[10][11][12][13] Durch einen Wienfilter wurde die Messung auf Myonen mit 99,5 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschränkt. Der Vergleich der gemessenen Teilchenanzahlen ermöglichte es, die Halbwertszeit dieser schnellen Myonen zu bestimmen; sie ergab sich mit 13 μs etwa neunmal länger als bei ruhenden Myonen. Schnelle Myonen zerfallen demnach langsamer als ruhende Myonen. 1963 wurde von Frisch und Smith ein ähnliches Experiment mit höherer Genauigkeit ausgeführt.[14]
Der erhebliche Fluss schneller Myonen aus der sekundären kosmischen Strahlung noch am Erdboden stellt einen störenden Untergrund bei Messungen schwacher Strahlenquellen dar. Er ist einer der Gründe dafür, solche Messungen in unterirdischen Laboratorien in früheren Bergwerken u. Ä. (wie etwa dem Gran-Sasso-Labor) durchzuführen.
Bestimmte neutrinolose Zerfallskanäle des Myons sind zwar kinematisch möglich, jedoch im Standardmodell (also auch ohne Neutrinooszillationen) verboten und bisher auch nicht beobachtet worden. Dies wird durch die Erhaltungssätze der Lepton-Flavours ausgedrückt (Erhaltung der Leptonenfamilienzahlen in jedem Wechselwirkungsvertex), woraus auch folgt, dass das Myon kein angeregter Zustand des Elektrons ist. Beispiele für solche Zerfälle, die den Lepton-Flavour ändern würden, sind
und
Die Beobachtung eines solchen Zerfalls wäre ein Indiz für eine neue Physik jenseits des Standardmodells (Neue Physik). In den letzten 50 Jahren wurde in zahlreichen Experimenten die obere Grenze für die Verzweigungsverhältnisse solcher Zerfälle ständig verbessert. Der aktuelle Grenzwert (2013) für den Zerfall $ \mu ^{-}\to e^{-}+\gamma $ wurde im MEG-Experiment bestimmt und liegt bei 5,7 · 10−13.[15][16] Das Experiment Mu3e plant, den Grenzwert für den anderen Zerfall von derzeit 10−12 auf 10−16 zu verbessern.
Myonen eignen sich besonders gut, um fundamentale Kräfte in der Physik auf höchstem Präzisionsniveau zu studieren. Nach heutigem Kenntnisstand sind sie wie alle Leptonen punktförmig. Damit lassen sich im Rahmen der Quantenelektrodynamik ihre Eigenschaften sehr präzise berechnen. Der Einfluss anderer Kräfte als der elektromagnetischen Kraft ist klein, aber durch virtuelle Teilchen, die das Myon umgeben, beobachtbar. Das führt zu einer Abweichung der magnetischen Eigenschaften des Myons.
Eine Präzisionsmessung dieser magnetischen Anomalie wurde am Brookhaven National Laboratory[17] von einer weltweiten Kollaboration um das Jahr 2000 durchgeführt. Sollte es andere als die der Teilchenphysik derzeit bekannten Teilchen geben, und sollten diese nicht allzu große Massen haben, dann müssten sie sich in der magnetischen Anomalie des Myons bemerkbar machen. Das Experiment konnte keine signifikante Abweichung finden. Die magnetische Anomalie des Myons wird auch g−2-Wert genannt. Sie ist die Abweichung des gemessenen Wertes von dem Wert, den man durch numerische Lösung der Dirac-Gleichung erhält:
Dieser Wert weicht von dem des Elektrons etwas ab:
Beide Größen bieten die Möglichkeit zum Vergleich mit experimentell ermittelten Werten. Bisher stimmen die Messungen mit den Berechnungen innerhalb der Fehlertoleranzen überein, wobei die Werte beim Myon leicht abweichen. Es wird sowohl an präziseren Vorhersagen als auch an präziseren Messungen gearbeitet, um zu untersuchen, ob die Abweichung Zufall ist oder ein Hinweis auf noch unbekannte Physik.
Wie Elektronen können die negativ geladenen Myonen an Atomkerne gebunden werden. Der zugehörige Bohrsche Radius der „Myonbahn“ um den Atomkern ist aber um das Verhältnis der Masse des Myons zum Elektron kleiner. Damit sind Myonen viel näher als Elektronen an den Kern gebunden. Die Wahrscheinlichkeit, sich im Kernbereich zu bewegen, ist dadurch um etwa 7 Größenordnungen größer als bei Elektronen.
Insbesondere bei schweren Atomkernen und bei Myonen, die nach dem Einfang das 1s-Orbital belegen, steigt die Wahrscheinlichkeit des Aufenthalts eines Myons innerhalb des Atomkerns auf signifikante Werte. Wenn das Myon dann vom Kern absorbiert wird, kommt es zum inversen Betazerfall und ein Proton wird in ein Neutron umgewandelt. Hierbei entstehen zusätzlich ein Neutrino und eventuell einige Gamma-Quanten. Der neu entstandene Atomkern ist häufig radioaktiv. Durchläuft dieser in der Folge einen normalen Betazerfall, entsteht wieder der ursprüngliche Atomkern.
Ein gebundenes Myon hat aufgrund der zusätzlichen Reaktionswahrscheinlichkeit eine deutlich geringere Lebensdauer, in Kupfer z. B. etwa 0,163 µs. Dies wird z. B. in der Myonen-Spin-Analyse genutzt.
Da das gebundene Myon einen Teil der Kernladung abschirmt, verschieben sich die Energieniveaus der gebundenen Elektronen. Weiterhin gilt das Pauli-Prinzip zwar jeweils für Elektronen und Leptonen untereinander, aber nicht zwischen verschiedenen Teilchenarten. So können in einem myonischen Atom neben zwei Elektronen im 1s-Zustand zusätzlich ein oder zwei Myonen im 1s-Zustand existieren.
Dem gebundenen Myon steht als einzig zusätzlicher Zerfallsweg – neben sämtlichen Zerfallskanälen des freien Myons – der Kerneinfang offen. Kerneinfang ist für schwere Kerne der dominierende Prozess. Nach weiteren Zerfallsmöglichkeiten wird derzeit gesucht, z. B. der sogenannten Myon-Elektron-Konversion, $ \mu ^{-}+Z\ \rightarrow \ e^{-}+Z $. Da dieser Prozess im Standardmodell der Teilchenphysik nicht möglich ist, wäre er ein eindeutiges Zeichen sogenannter Neuer Physik.
Antimyonen können mit ihrer positiven Ladung hingegen, ähnlich wie Protonen oder Positronen, selber ein Elektron einfangen. Dabei entsteht ein exotisches Atom, das Myonium genannt wird.
Die Messung der Lamb-Verschiebung von normalem Wasserstoff und myonischem Wasserstoff ist eine Möglichkeit, den Protonenradius zu bestimmen. Sie ist auf Grund unterschiedlicher Entfernungen zwischen Proton und dem entsprechenden Lepton unterschiedlich und ermöglicht so durch Messung der Energiedifferenzen zwischen 2s- und 2p-Zuständen durch Absorption von Laserstrahlung die Messung von Abweichungen des Coulombpotentials auf sehr kleinen Entfernungsskalen. Laut QED würde die 2010 am Paul-Scherrer-Institut beobachtete Verschiebung durch einen Protonenradius von (841,84 ± 0,67) · 10−18 m verursacht werden. Der Wert stimmt nicht mit dem Wert (876,8 ± 6,9) · 10−18 m aus Streuexperimenten überein (eines der ungelösten Probleme der Physik). 2016 wurden die kleineren Werte des Protonenradius durch die gleichen Messungen am Deuteron, die ebenfalls am Paul-Scherrer-Institut durchgeführt wurden, bestätigt.[18][19]
Wird ein Myon von einem Deuterium- oder einem Deuterium-Tritium-Molekül (D2 bzw. DT) eingefangen, dann entsteht ein positives myonisches Molekülion, da die relativ große Bindungsenergie des Myons die beiden Elektronen des Moleküls freisetzt. In diesem myonischen Molekül-Ion sind die beiden Atomkerne einander etwa 200-mal näher als in einem elektronischen Molekül. Das ermöglicht durch den Tunneleffekt die Fusion der beiden Kerne. Die sehr große durch die Fusion frei werdende Energie (bei D+D rund 3 MeV, bei D+T 14 MeV) setzt auch das Myon wieder frei und es kann während seiner Lebensdauer je nach Umgebungsbedingung viele weitere (Größenordnung 102) Einzelfusionen katalysieren.[20]
Um mit dieser myonisch katalysierten Kernfusion Nutzenergie erzeugen zu können, müssen die bis zum Zerfall des Myons (Lebensdauer 2,2 µs) stattfindenden Einzelfusionen mehr Energie freisetzen, als für die Erzeugung des Myons benötigt wurde. Aktuelle Teilchenbeschleuniger-Anlagen sind davon viele Größenordnungen entfernt.
Die myonenkatalysierte Fusion ist auch unter dem Namen kalte Fusion bekannt. Sie wurde ursprünglich von Andrei Sacharow vorgeschlagen.
Die kosmische Strahlung enthält Myonen mit einer Energie von mehreren GeV. Durch ihre hohe kinetische Energie können sie mehrere Kilometer dicken Fels durchdringen, bevor sie auf Geschwindigkeiten deutlich unter der Lichtgeschwindigkeit abgebremst sind und zerfallen. Daher kann man sie bei der Myonentomografie zum Durchleuchten größerer Objekte nutzen. Dazu werden die Myonen der kosmischen Strahlung verwendet und ihre Streustrahlung gemessen und tomographisch ausgewertet.
So wurde in den 1960er Jahren die Chephren-Pyramide von Luis Walter Alvarez untersucht.
Im Jahr 2009 wurde die Methode auf den Iō-dake (硫黄岳)-Vulkan des Süd-Yatsugatake-Massivs angewendet. Dadurch konnte die Dichteverteilung des Vulkans ermittelt werden.[21]
Im Herbst 2017 gaben Forscher den mit Myonentomografie gemachten Fund eines mindestens 30 m langen Hohlraums in der Cheops-Pyramide oberhalb der Großen Galerie bekannt.[22]
Das 1936 entdeckte Myon wurde zunächst für das 1935 von Hideki Yukawa postulierte Austauschteilchen der Kernkraft gehalten, das heute als Pion bekannt ist. Dieses Versehen rührte u. a. von der ähnlichen Ruhemasse der beiden Teilchen her. Die Verwechslung wurde 1947 durch die Entdeckung des $ \pi ^{-} $-Pions aufgeklärt.