Ziel des Hamilton-Jacobi-Formalismus (benannt nach den Mathematikern William Rowan Hamilton und Carl Gustav Jakob Jacobi) der Klassischen Mechanik ist es, die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen mittels einer besonderen kanonischen Transformation
- $ (q,p)\rightarrow (q',p') $
zu vereinfachen. Dadurch wird eine neue Hamilton-Funktion erzeugt, die identisch Null ist:
- $ {\tilde {H}}(q',p',t)=0 $
Dies hat zur Folge, dass sowohl die transformierten generalisierten Ortskoordinaten $ q' $, als auch ihre kanonisch konjugierten Impulskoordinaten $ p' $ Erhaltungsgrößen sind, dass also alle dynamischen Größen in der neuen Hamilton-Funktion zyklische Koordinaten sind:
- $ {\begin{aligned}{\frac {\partial {\tilde {H}}}{\partial p'_{k}}}&={\dot {q}}'_{k}=0\quad \Leftrightarrow \quad q'_{k}=\mathrm {const} \\-{\frac {\partial {\tilde {H}}}{\partial q'_{k}}}&={\dot {p}}'_{k}=0\quad \Leftrightarrow \quad p'_{k}=\mathrm {const} \end{aligned}} $.
Diese transformierten Bewegungsgleichungen sind trivial, das Problem verlagert sich stattdessen auf das Finden einer passenden Erzeugenden $ S $. Indem man ihre partielle Ableitung nach der Zeit zur untransformierten Hamilton-Funktion addiert, erhält man die transformierte Hamilton-Funktion:
- $ {\tilde {H}}(q',p',t)=H(q,p,t)+{\frac {\partial S}{\partial t}}=0. $
Dabei wird speziell eine erzeugende Funktion $ S(q,p',t) $ gewählt, die von den alten Ortskoordinaten $ q $ und den neuen (konstanten) Impulsen $ p' $ abhängt, so dass
- $ p_{k}={\frac {\partial S(q_{k},p'_{k},t)}{\partial q_{k}}}\ ,\quad q'_{k}={\frac {\partial S(q_{k},p'_{k},t)}{\partial p'_{k}}}. $
Eingesetzt in $ {\tilde {H}}=0 $ ergibt sich die Hamilton-Jacobi-Differentialgleichung für $ S $:
- $ H\left(q_{k},{\frac {\partial {S}}{\partial q_{k}}},t\right)+{\frac {\partial S}{\partial t}}=0 $
Sie ist eine partielle Differentialgleichung in den Variablen $ q_{k} $ und $ t $ für die Hamiltonsche Wirkungsfunktion $ S $ (die Verwendung des Begriffs „Wirkung“ wird weiter unten begründet).
Hamilton-Jacobi-Formalismus für nicht explizit zeitabhängige Hamilton-Funktion
Für konservative Systeme (d. h. $ H $ nicht explizit zeitabhängig: $ H(q,p)\neq H(t) $) wird zur ursprünglichen Hamilton-Funktion, die von den alten Impulsen und Orten abhängt, eine erzeugende Funktion $ S(q,p') $ konstruiert, die sie in eine neue Hamilton-Funktion transformiert, welche nur noch von den neuen (konstanten) Impulsen abhängt
- $ H(p,q)\Rightarrow {\tilde {H}}(p') $
Dabei sind die neuen Impulse Konstanten der Bewegung:
- $ {\dot {p}}'=-{\frac {\partial {\tilde {H}}(p')}{\partial q'}}=0\Leftrightarrow p'=\mathrm {const} , $
die neuen Orte ändern sich nur linear mit der Zeit:
- $ {\dot {q}}'={\frac {\partial {\tilde {H}}(p')}{\partial p'}}=C\Leftrightarrow q'=Ct+b $ mit $ C,b=\mathrm {const} . $
Für $ S(q,p') $ muss gelten
- $ p={\frac {\partial S(q,p')}{\partial q}}, $
- $ q'={\frac {\partial S(q,p')}{\partial p'}} $
Eingesetzt in die Hamilton-Funktion ergibt sich die Hamilton-Jacobi-Differentialgleichung für $ S(q,p') $ für konservative Systeme:
- $ H(q,p)\Rightarrow H\left(q,{\frac {\partial S(q,p')}{\partial q}}\right)={\tilde {H}}(p'). $
Zur Veranschaulichung von $ S $ wird die totale Ableitung nach der Zeit berechnet
- $ {\begin{aligned}{\frac {\mathrm {d} }{\mathrm {d} t}}\,S(q,p')&={\frac {\partial S}{\partial q}}{\dot {q}}+{\frac {\partial S}{\partial p'}}{\dot {p}}'\\&=p{\dot {q}}+q'{\dot {p}}'\\&=p{\dot {q}}\quad \quad \quad \mathrm {wegen} \;{\dot {p}}'=0.\end{aligned}} $
Benutzt man nun die Lagrange´schen Bewegungsgleichungen (mit Lagrangefunktion $ L=T-V $, wobei $ T $ die kinetische Energie ist, $ V(q) $ das Potential):
- $ {\frac {\mathrm {d} }{\mathrm {d} t}}S(q,p')={\frac {\partial L}{\partial {\dot {q}}}}{\dot {q}}={\frac {\partial T}{\partial {\dot {q}}}}{\dot {q}}=2T $.
Die zeitliche Integration liefert
- $ S=\int _{t_{1}}^{t_{2}}2T\ \mathrm {d} t=W, $
also ist $ S(q,p') $ mit dem Wirkungsintegral identisch.
Beispiel: Der eindimensionale harmonische Oszillator
Sei $ U=U(q) $ ein beliebiges Potential. Die Hamilton-Funktion lautet
- $ H(p,q)={\frac {p^{2}}{2m}}+U(q), $
die Hamilton-Jacobi-Gleichung
- $ {\frac {1}{2m}}\left({\frac {\partial S(q,p')}{\partial q}}\right)^{2}+U(q)={\tilde {H}}=E. $
Beim eindimensionalen Oszillator ist $ {\tilde {H}} $ die einzige Konstante der Bewegung. Da $ p' $ ebenfalls konstant sein muss, setzt man $ p'={\tilde {H}}=E $, was für alle konservativen Systeme möglich ist.
- $ \left({\frac {\partial S(q,p')}{\partial q}}\right)^{2}+2mU(q)=2mp' $
Durch Integrieren folgt
- $ S(q,p')={\sqrt {2m}}\int _{q_{0}}^{q}{\sqrt {(p'-U({\tilde {q}}))}}\mathrm {d} {\tilde {q}}, $
mit $ q'={\frac {\partial S(q,p')}{\partial p'}} $
- $ q'={\frac {m}{\sqrt {2m}}}\int _{q_{0}}^{q}{\frac {d{\tilde {q}}}{\sqrt {p'-U({\tilde {q}})}}}. $
Wegen der Hamiltonschen Bewegungsgleichung gilt außerdem
- $ {\dot {q}}'={\frac {\partial {\tilde {H}}(p')}{\partial p'}}={\frac {\partial E}{\partial p'}}={\frac {\partial p'}{\partial p'}}=1, $
- $ \Rightarrow q'=t-{t_{0}}. $
Um die Bewegung in $ p(t) $ und $ q(t) $ darstellen zu können, muss zu den alten Koordinaten zurücktransformiert werden
- $ p(t)={\frac {\partial S(q,p')}{\partial q}}={\sqrt {2m(p'-U(q))}}, $
- $ q'=t-{t_{0}}={\frac {m}{\sqrt {2m}}}\int _{q_{0}}^{q}{\frac {d{\tilde {q}}}{\sqrt {E-U({\tilde {q}})}}}. $
Für den Spezialfall des harmonischen Oszillators ergibt sich mit $ U(q)={\frac {1}{2}}aq^{2} $
- $ p(t)={\sqrt {2m\left(E-{\frac {1}{2}}aq^{2}\right)}}, $
- $ q'=t-{t_{0}}={\frac {m}{\sqrt {2m}}}\int _{q_{0}}^{q}{\frac {d{\tilde {q}}}{\sqrt {E-{\frac {1}{2}}a{\tilde {q}}^{2}}}}. $
Somit
- $ t-{t_{0}}={\sqrt {\frac {m}{a}}}\arcsin {\sqrt {\frac {a}{2E}}}q $
und letztlich
- $ q(t)={\sqrt {\frac {2E}{a}}}\sin {\sqrt {\frac {a}{m}}}(t-{t_{0})}, $
- $ p(t)={\sqrt {2mE}}\cos {\sqrt {\frac {a}{m}}}(t-{t_{0}}). $
Literatur
- Herbert Goldstein; Charles P. Poole, Jr; John L. Safko: Klassische Mechanik. 3. Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 2006, ISBN 3-527-40589-5.
- Wolfgang Nolting: Grundkurs Theoretische Physik 2 Analytische Mechanik. 7. Auflage. Springer, Heidelberg 2006, ISBN 3-540-30660-9.