Virtuelle Arbeit

Virtuelle Arbeit

Virtuelle Arbeit ist ein Konzept der Analytischen Mechanik bzw. der Technischen Mechanik und bezeichnet

  • sowohl die Arbeit, die eine Kraft an einem System bei einer virtuellen Verschiebung verrichtet,[1]
  • als auch die Arbeit, die eine virtuelle Kraft an einer realen Verschiebung leistet.

Unter einer virtuellen Verschiebung versteht man eine Gestalt- oder Lageänderung des Systems, die mit den Bindungen (z. B. Lager) verträglich und „instantan“, sonst aber willkürlich und außerdem infinitesimal klein ist.

Das Prinzip der virtuellen Arbeit resultiert aus dem Prinzip der virtuellen Leistung und wird ebenso zur Berechnung des Gleichgewichts in der Statik und zum Aufstellen von Bewegungsgleichungen (d’Alembertsches Prinzip) verwendet.

Beschreibung

Virtuelle Verschiebung, virtuelle Arbeit

Im Folgenden wird ein N-Teilchensystem betrachtet, das durch Zwangsbedingungen eingeschränkt ist.

Eine virtuelle Verschiebung δxi ist eine fiktive infinitesimale Verschiebung des i-ten Teilchens, die mit den Zwangsbedingungen verträglich ist. Die Abhängigkeit von der Zeit wird nicht betrachtet.[Anm 1]

Die s holonomen Zwangsbedingungen fl(x1,,xN,t)=0,l=1,,s  werden erfüllt durch Verwendung von n=3Ns generalisierter Koordinaten qk:

δxi=k=1nxiqkδqk

(Die holonomen Zwangsbedingungen werden also durch Auswahl und entsprechende Reduzierung der generalisierten Koordinaten explizit eliminiert.)

Zur Erfüllung auch der anholonomen Zwangsbedingungen unterliegen die δqk [Anm 2] weiteren Bedingungen, z. B. r differentiellen nicht-integrablen Gleichungen:

kak(l)δqk=0 ,l=1,,r

Die virtuelle Arbeit, welche die Kraft Fi bei virtueller Verschiebung δxi am i-ten Teilchen verrichten würde, ist:

δWi=Fiδxi

System im Gleichgewicht

Ist das N-Teilchensystem im Gleichgewicht, so ist für jedes Teilchen die Beschleunigung gleich Null:

x¨i=0

Daher muss die resultierende Kraft auf jedes Teilchen gleich Null sein:

Fi=mix¨i=0

Ist das System im Gleichgewicht, ist die virtuelle Arbeit der Kraft Fi bei Verschiebung δxi gleich Null, da die Kraft selbst verschwindet:

δWi=Fiδxi=0

Somit ist auch die Summe über die von allen Kräften bei virtuellen Verschiebungen geleistete Arbeit gleich Null:

i=1NFiδxi=0

Die resultierenden Kräfte Fi kann man zusammensetzen aus eingeprägten Kräften Fie und Zwangskräften Fiz:

Fi=Fie+Fiz

Eingesetzt in obige Beziehung:

i=1NFieδxi+i=1NFizδxi=0

Prinzip der virtuellen Arbeit

Meist steht die Zwangskraft Fiz senkrecht zur virtuellen Verschiebung δxi, so dass Fizδxi=0 gilt. Dies ist z. B. der Fall, wenn die Bewegung auf Kurven oder Flächen begrenzt ist.

Es gibt allerdings Systeme, bei denen einzelne Zwangskräfte Arbeit verrichten Fizδxi0.

Das Prinzip der virtuellen Arbeit fordert nun, dass die Summe aller von den Zwangskräften verrichteten virtuellen Arbeiten bei einem System im Gleichgewicht verschwindet:

i=1NFizδxi=0

Für die eingeprägten Kräfte bedeutet das Prinzip der virtuellen Arbeit:

i=1NFieδxi=0

Man beachte, dass das Prinzip der virtuellen Arbeit nur ein Gleichgewichtsprinzip der Statik ist. Die Erweiterung auf die Dynamik liefert das D’Alembertsche Prinzip.

Prinzip der virtuellen Arbeit in konservativen Systemen

In konservativen Systemen sind alle eingeprägten Kräfte von einem Potential V ableitbar:

Fie=xiV=Vxi

In diesem Fall lässt sich das Prinzip der virtuellen Arbeit

i=1NFieδxi=i=1NVxiδxi=0

darstellen in der Form

δV=0.

Hierbei ist das Symbol δ als Variationszeichen im Sinne der Variationsrechnung aufzufassen. δV=0 bedeutet damit die erste Variation der Potentiellen Energie.

Beispiel

Datei:Winkelhebel.png
Gelenkig gelagerter Winkelhebel, die virtuelle Verschiebung ist durch den Drehwinkel δΦ charakterisiert.

An einem Winkelhebel, der frei drehbar auf einer Achse gelagert ist, greifen 2 eingeprägte Kräfte F1 und F2 an. Die virtuellen Verschiebungen der Kraftangriffspunkte sind δx1 und δx2.

Die virtuelle Arbeit der eingeprägten Kräfte ist damit

F1δx1F2δx2=0

Weil der Winkelhebel als starr angesehen wird, sind die Größen δx1 und δx2 nicht unabhängig voneinander. Ihre Abhängigkeit kann man durch die Variation δΦ der generalisierten Koordinate Φ ausdrücken (Kleinwinkelnäherung):

δx1=a1δΦund
δx2=a2δΦ

(Betrachtung in 2 Dimensionen:

  • N = 1 Teil: Winkelhebel
  • s = 1 holonome Zwangsbedingung: δx1a1=δx2a2=tanδΦδΦ
  • r = 0 nicht-holonome Zwangsbedingungen
  • n = 2N - s = 1 generalisierte Koordinate: Φ)

Damit wird die virtuelle Arbeit:

(F1a1F2a2)δΦ=0

Da die Gleichung für beliebige δΦ gilt, muss der Klammerausdruck identisch 0 sein:

F1a1=F2a2

Also bleibt das System im Gleichgewicht, d. h., es kippt weder nach rechts noch nach links, wenn die Kräfte multipliziert mit ihrer Achsdistanz gleich groß sind.

Prinzip der virtuellen Arbeit für dynamische Systeme

Die virtuelle Arbeit der Zwangskräfte bzw. -momente ist bei dynamischen Systemen gleich Null. Drückt man die virtuellen Verschiebungen in den generalisierten Koordinaten aus, so können mit dem Prinzip der virtuellen Arbeit Bewegungsgleichungen für große Mehrkörpersysteme aufgestellt werden.

Alternativen

Neben dem Prinzip der virtuellen Arbeit wird auch das Prinzip der virtuellen Leistung verwendet. Sein wesentlicher Unterschied liegt darin, dass statt virtuellen Verschiebungen hier virtuelle Geschwindigkeitsvariationen benutzt werden.

In der Statik wird dieses Prinzip selten angewendet, jedoch erweist sich seine Erweiterung auf dynamische Systeme, das Prinzip von Jourdain, als vorteilhaft, da dort nichtholonome Bedingungen elegant berücksichtigt werden können.

Anmerkungen

  1. Aus dem totalen Differential einer Funktion g(q1,,qn,t), also einem Ausdruck der Form dg=i=1ngqidqi+gtdt , entsteht die gesuchte virtuelle Änderung δg=i=1ngqiδqi. Der Begriff „instantan“ ist dadurch mathematisiert.
  2. Die verallgemeinerten Koordinaten können von der Zeit abhängen, obwohl das erneut nicht eingeht, da nur der momentane Wert benötigt wird.

Literatur

  • Herbert Goldstein, Charles P. Poole, John L. Safko: Klassische Mechanik. 3. Auflage. Wiley-VCH, 2006, ISBN 978-3-527-40589-3.
  • Danilo Capecchi: History of Virtual Work Laws. A History of Mechanics Prospective. Birkhäuser, 2012 Mailand, ISBN 978-88-470-2055-9.
  • Karl-Eugen Kurrer: The History of the Theory of Structures. Searching for Equilibrium, Ernst und Sohn, Berlin 2018, S. 27–31, S. 476–481, S. 811–814, S. 821–824 und S. 929–931, ISBN 978-3-433-03229-9.

Einzelnachweise

  1. Rolf Mahnken: Lehrbuch der Technischen Mechanik – Statik: Grundlagen und Anwendungen. Springer, ISBN 978-3-642-21710-4 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).