Dekohärenz ist ein Phänomen der Quantenphysik, das zur unvollständigen oder vollständigen Unterdrückung der Kohärenzeigenschaften quantenmechanischer Zustände führt. Dekohärenzeffekte ergeben sich, wenn ein bislang abgeschlossenes System mit seiner Umgebung in Wechselwirkung tritt. Dadurch werden sowohl der Zustand der Umgebung als auch der Zustand des Systems irreversibel verändert. Das Dekohärenzkonzept wurde ca. 1970 vom deutschen Physiker Dieter Zeh eingeführt.
Die Konzepte der Dekohärenz sind heute bei vielen gängigen Interpretationen der Quantenmechanik ein wichtiges Hilfsmittel zur Klärung der Frage, wie die klassischen Phänomene makroskopischer Quantensysteme gedeutet werden können.[1] Sie sind jedoch unvereinbar mit der Kopenhagener Interpretation, welche Messgeräte als „klassische“, nicht quantenmechanisch beschreibbare Systeme definiert.[1]
Weiterhin ist die Dekohärenz ein Hauptproblem bei der Konstruktion von Quantencomputern, bei denen eine quantenmechanische Überlagerung möglichst vieler Zustände über einen hinreichend langen Zeitraum ungestört aufrechterhalten werden soll.
Falls die Quantenmechanik eine fundamentale Theorie darstellt, muss – da die Gesetze der Quantenmechanik grundsätzlich unabhängig von der Größe des betrachteten Systems formuliert sind – der Übergang der physikalischen Eigenschaften mikroskopischer Systeme zu den Eigenschaften makroskopischer Systeme quantenmechanisch beschreibbar sein. Quantenphänomene wie das Doppelspaltexperiment werfen jedoch die Frage auf, wie das „klassische“ Verhalten makroskopischer Systeme im Rahmen der Quantenmechanik erklärt werden kann. Insbesondere ist es keineswegs unmittelbar ersichtlich, welche physikalische Bedeutung einem quantenmechanischen Superpositionszustand bei Anwendung auf ein makroskopisches System zukommen soll. So stellte Albert Einstein 1954 in seiner Korrespondenz mit Max Born die Frage, wie sich im Rahmen der Quantenmechanik die Lokalisierung makroskopischer Gegenstände erklären lässt. Dabei wies er darauf hin, dass die „Kleinheit“ quantenmechanischer Effekte bei makroskopischen Massen zur Erklärung der Lokalisierung nicht ausreicht:
Ein anderes Beispiel für die (scheinbaren) Paradoxien bei der Anwendung quantenmechanischer Konzepte auf makroskopische Systeme ist das von Erwin Schrödinger erdachte, heute als „Schrödingers Katze“ bekannte Gedankenexperiment.
Erst ab ca. 1970 (Arbeiten von Dieter Zeh) setzte sich – ausgehend von theoretischen und experimentellen Untersuchungen des Messprozesses – allmählich die Erkenntnis durch, dass die o. g. Überlegungen und Gedankenexperimente zu makroskopischen Zuständen insofern unrealistisch sind, als sie deren unvermeidliche Wechselwirkungen mit der Umgebung ignorieren. So stellte sich heraus, dass Superpositionseffekte wie die oben erläuterte Interferenz am Doppelspalt äußerst empfindlich auf jeglichen Einfluss aus der Umgebung reagieren: Stöße mit Gasmolekülen oder Photonen, aber auch die Aussendung oder Absorption von Strahlung beeinträchtigen oder zerstören die feste Phasenbeziehung zwischen den beteiligten Einzelzuständen $ |\phi _{n}^{\text{System}}\rangle $ des betrachteten Systems, die für das Auftreten von Interferenzeffekten entscheidend ist.
In der Terminologie der Quantenmechanik lässt sich dieses als Dekohärenz bezeichnete Phänomen auf die Wechselwirkung zwischen den Systemzuständen und den Streuteilchen zurückführen. Diese kann durch eine Verschränkung der Einzelzustände $ |\phi _{n}^{\text{System}}\rangle $ mit den Zuständen $ |\phi _{m}^{\text{Streuteilchen}}\rangle $ der Umgebung beschrieben werden. Als Folge dieser Wechselwirkung bleiben die Phasenbeziehungen zwischen den beteiligten Zuständen nur bei Betrachtung des Gesamtsystems (System + Umgebung) wohldefiniert. Bei isolierter Betrachtung der Systemzustände $ |\phi _{n}^{\text{System}}\rangle $ ergeben sich dagegen rein statistische, d. h. „klassische“ Verteilungen dieser Zustände.[3]
Dekohärenzzeiten in Sekunden[3] | |||
---|---|---|---|
Umgebungseinfluss | Freies Elektron | Staubteilchen 10 µm | Bowlingkugel |
300 K, Normaldruck | 10−12 | 10−18 | 10−26 |
300 K, Ultrahochvakuum (Labor) | 10 | 10−4 | 10−12 |
mit Sonnenlicht (auf der Erde) | 10−9 | 10−10 | 10−18 |
mit Wärmestrahlung (300 K) | 10−7 | 10−12 | 10−20 |
mit Kosmischer Hintergrundstrahlung (2,73 K) | 10−9 [4] | 10−7 | 10−18 |
Eine Vorstellung von der Effizienz dieses Phänomens gibt Tabelle 1, in der typische Größenordnungen der Dekohärenzzeiten (d. h. der Zeitspannen, innerhalb derer die Kohärenz verloren geht) für verschiedene Objekte und Umgebungseinflüsse aufgeführt sind. Offensichtlich zerfallen die Überlagerungszustände makroskopischer Objekte durch den praktisch nicht vermeidbaren Einfluss der Umgebung innerhalb kürzester Zeit in ein klassisches Ensemble unkorrelierter Einzelzustände (bereits das 10 µm-Staubteilchen muss in diesem Sinne als makroskopisch bezeichnet werden).
Bei den obigen Ausführungen wurde implizit angenommen, dass makroskopische Systeme spätestens nach Ablauf der Dekohärenzprozesse Zustände einnehmen, welche die vertrauten „klassischen“ Eigenschaften aufweisen. Jedoch ist nicht unmittelbar klar, welche der vielen denkbaren Basissysteme die bevorzugte Basis makroskopischer Systeme darstellen. Warum scheinen z. B. bei makroskopischen Systemen in der Regel lokalisierte Ortszustände eine bevorzugte Rolle zu spielen, während mikroskopische Systeme häufig in delokalisierten Zuständen (z. B. Energie-Eigenzuständen) vorgefunden werden?
Auch diese Fragestellung kann auf den Einfluss der Umgebung auf das betrachtete System zurückgeführt werden. Demnach definiert nur eine „robuste“ Basis, die nicht unmittelbar durch Dekohärenz-Mechanismen zerstört wird, die tatsächlich realisierbaren Observablen (verschiedene konkrete Beispiele inkl. einer Begründung des bevorzugten Auftretens räumlich lokalisierter Zustände finden sich z. B. bei Erich Joos [3] und Maximilian Schlosshauer [1]). Diese Bevorzugung bestimmter makroskopischer Zustände wird als Superselektion oder einselection (für environmentally-induced superselection) bezeichnet.
In der Literatur findet sich häufig die Aussage, Dekohärenz und Superselektion stellten eine Lösung für das Messproblem dar, eine der grundlegenden ungeklärten Fragen der Quantenmechanik. Diese Aussage ist jedoch sehr umstritten.[1]
Wenn davon die Rede ist, dass die Dekohärenz „klassische“ Eigenschaften hervorruft, dann bedeutet dies, dass das Quantensystem annähernd („for all practical purposes“) keine Interferenz und keine Überlagerungszustände mehr zeigt. Messungen an dekohärenten Systemen zeigen eine klassische statistische Verteilung der Messwerte; damit verschwinden auch Widersprüche zur klassischen Physik wie das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon.
Die Dekohärenztheorie kann jedoch keine einzelnen Messungen erklären, sondern macht nur statistische Aussagen über Ensembles aus mehreren Messvorgängen. Um zu erklären, warum bei einer Einzelmessung nur ein einzelnes, bestimmtes Ergebnis wahrgenommen wird, ist nach wie vor eine weitergehende Interpretation nötig, wie sie zum Beispiel im Rahmen der Viele-Welten-Interpretation versucht wird. Auch die Dynamischer-Kollaps-Theorien sind gut mit der Dekohärenztheorie vereinbar.[1]