Neutrino | |
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Klassifikation | |
Elementarteilchen Fermion Lepton | |
Eigenschaften | |
Ladung | neutral |
Masse | Elektron-Antineutrino: < 2,2 eV/c2 |
Spin | 1/2 |
Wechselwirkungen | schwache Wechselwirkung, Gravitation |
Neutrinos sind elektrisch neutrale Elementarteilchen mit sehr geringer Masse. Im Standardmodell der Elementarteilchenphysik existieren drei Arten (Generationen) von Neutrinos: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. Jede Neutrino-Generation besteht aus dem Neutrino selbst und seinem Anti-Neutrino. Der Name Neutrino wurde von Enrico Fermi für das zuerst entdeckte Elektron-Neutrino vorgeschlagen und bedeutet (entsprechend der italienischen Verkleinerungsform ino) kleines Neutron.
Bei Wechselwirkung der Neutrinos mit Materie finden, anders als bei den anderen bekannten Elementarteilchen, nur Prozesse der schwachen Wechselwirkung statt. Reaktionen erfolgen im Vergleich zur elektromagnetischen und starken Wechselwirkung also relativ selten. Ein einzelnes Ereignis – wenn es eintritt – kann dennoch große Energiemengen freisetzen. Ein Strahl von Neutrinos geht auch durch große Schichtdicken – z. B. durch die ganze Erde – fast ungeschwächt hindurch. Entsprechend aufwendig ist der Nachweis von Neutrinos in Experimenten.
Nach dem Entstehungsort der in Neutrinodetektoren beobachteten Neutrinos kann unterschieden werden zwischen
Beim radioaktiven Beta-Minus-Zerfall wurde zunächst nur ein ausgesandtes Elektron beobachtet. Zusammen mit dem verbleibenden Kern schien es sich somit um ein Zweikörperproblem zu handeln (siehe auch Kinematik (Teilchenprozesse)). Damit ließ sich das kontinuierliche Energiespektrum der Beta-Elektronen nur erklären, wenn man eine Verletzung des Energieerhaltungssatzes annahm. Das führte Wolfgang Pauli dazu, ein neues Elementarteilchen anzunehmen, das von den Detektoren unbeobachtet gleichzeitig mit dem Elektron aus dem Kern ausgesandt wird. Dieses Teilchen trägt einen Teil der beim Zerfall freiwerdenden Energie davon. Auf diese Weise können die Elektronen der Betastrahlung unterschiedlich viel kinetische Energie erhalten, ohne dass die Energieerhaltung verletzt ist.
Pauli schlug in einem Brief vom 4. Dezember 1930 dieses hypothetische Teilchen vor, das er zunächst Neutron nannte.[2] Enrico Fermi, der eine Theorie über die grundlegenden Eigenschaften und Wechselwirkungen dieses Teilchens ausarbeitete, benannte es um in Neutrino (italienisch für „kleines Neutron“, „Neutrönchen“), um einen Namenskonflikt mit dem heute bekannten Neutron zu vermeiden. Erst 1933 präsentierte Pauli seine Hypothese einem breiteren Publikum und stellte die Frage nach einem möglichen experimentellen Nachweis. Da das Neutrino in den üblichen Teilchendetektoren kein Signal erzeugte, war klar, dass es nur äußerst schwer nachweisbar sei.
Tatsächlich gelang die erste Beobachtung erst 23 Jahre später, 1956, an einem der ersten großen Kernreaktoren mit dem Cowan-Reines-Neutrinoexperiment.[3][4][5] Die Forscher sandten am 14. Juni 1956 Wolfgang Pauli ein Telegramm mit der Erfolgsmitteilung nach Zürich.[6] Ein Kernreaktor emittiert durch den Betazerfall der Spaltprodukte Neutrinos (genauer: Elektron-Antineutrinos) mit viel höherer Flussdichte, als mit einem radioaktiven Präparat erreichbar wäre. Reines und Cowan benutzten zur Detektion der Antineutrinos die folgende Teilchenreaktion (sog. inverser Betazerfall):
Ein Antineutrino trifft auf ein Proton und erzeugt ein Positron und ein Neutron. Diese Reaktionsprodukte sind beide vergleichsweise leicht beobachtbar. Für diese Entdeckung erhielt Reines 1995 den Nobelpreis für Physik.
Das Myon-Neutrino wurde 1962 von Jack Steinberger, Melvin Schwartz und Leon Max Lederman mit dem ersten an einem Beschleuniger hergestellten Neutrinostrahl entdeckt. Den Neutrinostrahl erzeugten sie, indem sie einen hochenergetischen Pionenstrahl so weit laufen ließen, dass ein Teil der Pionen (etwa 10 %) in Myonen und Neutrinos zerfallen war. Mit Hilfe einer massiven, etwa 12 m dicken Stahlabschirmung, die von dem gemischten Teilchenstrahl aus Pionen, Myonen und Neutrinos alle Teilchen außer den Neutrinos aufhielt, konnten sie dann einen reinen Neutrinostrahl gewinnen.[7] Sie erhielten dafür den Physiknobelpreis des Jahres 1988. Mit dem Myon-Neutrino wurde eine zweite Neutrinogeneration bekannt, die das Analogon zum Elektron-Neutrino für Myonen darstellt. Kurzzeitig war für das Myon-Neutrino die Bezeichnung Neutretto in Verwendung (-etto ist ebenfalls eine italienische Verkleinerungsform), die jedoch keine große Verbreitung fand. Als 1975 das Tauon entdeckt wurde, erwarteten die Physiker auch eine zugehörige Neutrinogeneration, das Tauon-Neutrino. Erste Anzeichen für dessen Existenz gab das kontinuierliche Spektrum im Tauon-Zerfall, ähnlich wie beim Betazerfall. Im Jahr 2000 wurde dann am DONUT-Experiment das Tau-Neutrino erstmals direkt nachgewiesen.
Das von 1993 bis 1998 laufende LSND-Experiment in Los Alamos wurde als Hinweis auf die Existenz steriler Neutrinos interpretiert, war jedoch umstritten. Nachdem das KArlsruhe-Rutherford-Mittel-Energie-Neutrino-(KARMEN)-Experiment unter der Federführung des Forschungszentrums Karlsruhe am britischen Rutherford Labor die Ergebnisse nicht reproduzieren konnte, gilt diese Interpretation seit 2007 durch erste Ergebnisse von MiniBooNE (miniature booster neutrino experiment am Fermi National Accelerator Laboratory) als offen.[8]
Es sind drei Generationen von Leptonen bekannt. Jede davon besteht aus einem elektrisch geladenen Teilchen – Elektron, Myon oder Tauon – und jeweils einem elektrisch neutralen Neutrino, Elektron-Neutrino ($ \nu _{e} $), Myon-Neutrino ($ \nu _{\mu } $) bzw. Tau- oder Tauon-Neutrino ($ \nu _{\tau } $). Hinzu kommen die entsprechenden sechs Antiteilchen. Alle Leptonen haben eine schwache Ladung und Spin ½.
Nach neueren Erkenntnissen können sich Neutrinos ineinander umwandeln. Das führt zu einer alternativen Beschreibung als drei verschiedene Zustände $ \nu _{1} $, $ \nu _{2} $ und $ \nu _{3} $, die jeweils eine scharf bestimmte (aber noch unbekannte) Masse haben. Die beobachtbaren Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos – benannt nach dem jeweiligen geladenen Lepton, mit dem zusammen sie auftreten – sind quantenmechanische Überlagerungen dieser drei Masseneigenzustände.
Die Anzahl der Neutrinoarten mit einer Masse, die kleiner als die halbe Masse des Z-Bosons ist, wurde in Präzisionsexperimenten u. a. am L3-Detektor am CERN zu genau drei bestimmt.
Es gibt derzeit keine Hinweise auf einen neutrinolosen doppelten Betazerfall. Frühere Arbeiten, die dies nahelegten, wurden durch genauere Messungen widerlegt.[9] Ein neutrinoloser doppelter Betazerfall würde bedeuten, dass entweder die Erhaltung der Leptonenzahl verletzt oder das Neutrino sein eigenes Antiteilchen wäre. In der quantenfeldtheoretischen Beschreibung hieße dies (im Widerspruch zum jetzigen Standardmodell), dass das Neutrinofeld kein Dirac-Spinor, sondern ein Majorana-Spinor wäre.
Die Physiker Lee und Yang gaben den Anstoß für ein Experiment zur Untersuchung der Spins von Neutrinos und Antineutrinos. Dieses wurde 1956 von Chien-Shiung Wu ausgeführt und brachte das Ergebnis, dass die Paritätserhaltung nicht ausnahmslos gilt:
Das Neutrino erwies sich als „Linkshänder“, sein Spin ist seiner Bewegungsrichtung entgegengesetzt (antiparallel; siehe Händigkeit). Damit wird eine objektive Erklärung von links und rechts möglich. Im Bereich der schwachen Wechselwirkung muss demnach beim Übergang von einem Teilchen zu seinem Antiteilchen nicht nur die elektrische Ladung, sondern auch die Parität, also der Spin, vertauscht werden. Die schwache Wechselwirkung unterscheidet sich also von der elektromagnetischen Wechselwirkung durch die Verknüpfung der schwachen Ladung mit der Rechts- oder Links-Händigkeit eines Teilchens. Bei den Leptonen und Quarks haben nur die linkshändigen Teilchen und ihre rechtshändigen Antiteilchen eine schwache Ladung. Dagegen sind die rechtshändigen Teilchen und ihre linkshändigen Antiteilchen gegenüber der schwachen Ladung neutral. Man bezeichnet dieses Phänomen als maximale Paritätsverletzung.
Dadurch wird auch verständlich, dass Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sein könnten, obwohl sich Neutrinos und Antineutrinos im Experiment verschieden verhalten: Die aus dem Experiment als Antineutrinos bekannten Teilchen wären einfach Neutrinos, deren Spin parallel zur Bewegungsrichtung ist. Man kann die Bewegungsrichtung der Neutrinos experimentell nicht einfach umdrehen; auch kann man derzeit keine Experimente durchführen, bei denen ein Neutrino von einem schnelleren Teilchen eingeholt wird und mit diesem wechselwirkt, so dass die Bewegungsrichtung im Bezugssystem des Wechselwirkungsschwerpunkts der Bewegungsrichtung im Bezugssystem des Labors entgegengesetzt ist.
Im Standardmodell der Teilchenphysik haben Neutrinos keine Masse. Es gibt Erweiterungen des Standardmodells und auch einige Große Vereinheitlichte Theorien, die eine von null verschiedene Masse vorhersagen.
Methoden zur Bestimmung der Neutrinomasse zerfallen in vier Gruppen:
Alle publizierten Ergebnisse werden von der Particle Data Group bewertet und fließen in die jährlich veröffentlichten Review of Particle Physics ein.
Direkte Messungen des Endpunktes des Betaspektrums von Tritium konnten bis 2006 die mögliche Masse der Elektron-Neutrinos mit 2 eV/c² nach oben einschränken.[10] Eine bessere Obergrenze erhofft man sich durch noch genauere Messungen des KATRIN-Experiments am Karlsruher Institut für Technologie, das eine Obergrenze von 0,2 eV/c² erreichen soll. Die bisherigen Messungen konnten nicht ausschließen, dass das leichteste Neutrino masselos ist, und ohne eine Verbesserung der Messgenauigkeit um mehrere Größenordnungen wird dies auch nicht erwartet.
Die Beobachtung von Neutrino-Oszillationen ist eine indirekte Messung von Massendifferenzen zwischen verschiedenen Neutrinos. Sie belegen, dass Neutrinos tatsächlich eine (im Vergleich zu den assoziierten geladenen Leptonen) sehr kleine, von null verschiedene Ruhemasse besitzen. Die so erhaltenen sehr kleinen Massendifferenzen bedeuten auch, dass die obige Massengrenze für Elektron-Neutrinos zugleich die Grenze für alle Arten von Neutrinos ist.
Der hypothetische neutrinolose doppelte Betazerfall ist nur dann möglich, wenn die Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind. Dann kann es beim gleichzeitigen Beta-Zerfall von 2 Neutronen in einem Atomkern manchmal zur Annihilation von 2 virtuellen Neutrinos anstatt zur Aussendung von 2 (realen) Neutrinos kommen. Da die Neutrinos selbst kaum messbar sind, misst man die Gesamtenergie der 2 bei dem Prozess entstehenden Elektronen: Kommen neutrinolose Zerfälle vor, so hat das Elektronen-Gesamtenergie-Spektrum ein lokales Maximum nahe der Zerfallsenergie, weil fast die gesamte Zerfallsenergie nun durch die Elektronen abgeführt wird (ein kleiner Rest geht in kinetische Energie des Atomkerns über).
Der kosmologische Zugang zur Bestimmung der Neutrinomassen basiert auf der Beobachtung der Anisotropie der kosmischen Hintergrundstrahlung durch WMAP und anderen Beobachtungen, die die Parameter des Lambda-CDM-Modells, des heutigen Standardmodells der Kosmologie, bestimmen. Durch den Einfluss, den Neutrinos auf die Strukturbildung im Universum und auf die primordiale Nukleosynthese haben, kann (Stand 2007) als Obergrenze für die Summe der drei Neutrinomassen 0,2 eV/c² angenommen werden.[11][12]
Für die Entdeckung der Neutrinooszillationen erhielten Takaaki Kajita und Arthur B. McDonald 2015 den Nobelpreis für Physik.
Aufgrund ihrer geringen Masse wird erwartet, dass in teilchenphysikalischen Prozessen erzeugte Neutrinos sich mit nahezu Vakuumlichtgeschwindigkeit bewegen. In mehreren Experimenten wurde die Geschwindigkeit von Neutrinos gemessen und eine Übereinstimmung innerhalb der Messgenauigkeit mit der Lichtgeschwindigkeit beobachtet.
Die Messung der Neutrinomasse, Neutrinogeschwindigkeit und Neutrinooszillationen stellen darüber hinaus Möglichkeiten dar, um die Gültigkeit der Lorentzinvarianz der speziellen Relativitätstheorie zu überprüfen. Messergebnisse des OPERA-Experimentes im Jahr 2011, nach denen sich Neutrinos mit Überlichtgeschwindigkeit bewegt haben sollten, konnten auf Messfehler zurückgeführt werden. Eine neue Messung durch ICARUS und auch eine neue Analyse der OPERA-Daten haben Übereinstimmungen mit der Lichtgeschwindigkeit ergeben.
Die Durchdringungsfähigkeit hängt von der Energie der Neutrinos ab. Mit zunehmender Energie nimmt der Wirkungsquerschnitt der Neutrinos zu und die mittlere freie Weglänge entsprechend ab.
Beispiel:
Die mittlere freie Weglänge von Neutrinos mit einer Energie von 103 TeV bei Wechselwirkung mit der Erde liegt im Bereich des Erddurchmessers. Das bedeutet, dass beim Flug quer durch die Erde knapp zwei Drittel dieser Neutrinos wechselwirken, während reichlich ein Drittel durch die Erde durchfliegt.[13] Bei 11 MeV ist die mittlere freie Weglänge in Blei bereits 350 Milliarden Kilometer, und in der Erde würden im Schnitt etwa drei von einer Milliarde Neutrinos eine Wechselwirkung eingehen, während die restlichen ungehindert durchfliegen.
Zum Vergleich:
Der größte Teilchenbeschleuniger der Welt, der Large Hadron Collider, erzeugt Teilchen mit einer Energie von 6,5 TeV pro Nukleon, die Sonne produziert hauptsächlich Neutrinos mit Energien unterhalb von 10 MeV.
Eine neuere Übersicht über den Wirkungsquerschnitt von Neutrinos bei verschiedenen Reaktionen und Energien ist im Internet verfügbar.[14]
Sämtliche Neutrinoreaktionen laufen über die schwache Wechselwirkung ab. Neutrinos unterliegen auch der Gravitation, diese ist aber so schwach, dass sie praktisch keinerlei Bedeutung hat. Neutrinoreaktionen lassen sich wie alle Reaktionen der schwachen Kernkraft in drei Kategorien einteilen:
Die einfachsten Reaktionen, an denen Neutrinos teilnehmen, sind die radioaktiven Betazerfälle. Sie treten bei instabilen Kernen spontan auf und benötigen keine Anregung durch andere Teilchen.
Beim β−-Zerfall (Beta-minus-Zerfall) wandelt sich ein Neutron in ein Proton um, wobei ein Elektron und ein Elektron-Antineutrino entstehen. Auf Quantenebene emittiert dabei eines der beiden Down-Quarks des Neutrons das intermediäre Vektorboson W−, wobei es sich in ein Up-Quark verwandelt. Das emittierte W-Boson zerfällt schließlich in ein Elektron und ein Elektron-Antineutrino. Es handelt sich also um den „geladenen Strom“. Dieser Zerfall tritt beispielsweise bei freien Neutronen auf, aber auch bei Atomkernen, die einen großen Neutronenüberschuss aufweisen.
Umgekehrt wandelt sich beim β+-Zerfall (Beta-plus-Zerfall) ein Proton in ein Neutron um und sendet durch den Zerfall des entstehenden W+-Bosons ein Positron und ein Elektron-Neutrino aus. Der Prozess tritt bei Protonenüberschuss im Kern auf. Da die Reaktionsprodukte schwerer sind als das ursprüngliche Proton, muss die Massendifferenz von der Bindungsenergie des Kerns aufgebracht werden.
Wichtige Neutrinoquellen sind auch kosmische Kernfusionsprozesse, zum Beispiel in der Sonne. Ein Beispiel ist die Proton/Proton-Reaktion, die besonders bei kleinen Sternen von Bedeutung ist. Dabei verschmelzen zwei Wasserstoffkerne unter extrem hoher Temperatur zu einem Deuteriumkern, wobei durch die Umwandlung eines Protons in ein Neutron ein Positron und ein Elektron-Neutrino frei werden.
Auf Quantenebene ist die Reaktion äquivalent zum β+-Zerfall. Weil in der Sonne aber enorm viele Fusionen pro Sekunde stattfinden und dadurch enorm viele Neutrinos freigesetzt werden, hat die Proton/Proton-Reaktion in der Neutrinoforschung die größere Bedeutung. In der Sonne und schwereren Sternen entstehen Elektron-Neutrinos auch bei einem weiteren Fusionsprozess, dem Bethe-Weizsäcker-Zyklus. Die Beobachtung der sogenannten Sonnenneutrinos ist wichtig, um die exakten Prozesse im Inneren der Sonne und die fundamentalen Wechselwirkungen der Physik zu verstehen.
Obwohl die geringe Reaktionsfreudigkeit der Neutrinos deren Nachweis schwierig macht, kann man das Durchdringungsvermögen der Neutrinos in der Forschung auch ausnutzen: Neutrinos aus kosmischen Ereignissen erreichen die Erde, während elektromagnetische Strahlung oder andere Teilchen in interstellarer Materie abgeschirmt werden.
Zuerst wurden Neutrinos genutzt, um das Innere der Sonne zu erforschen. Die direkte optische Beobachtung des Kerns ist aufgrund der Diffusion elektromagnetischer Strahlung in den umgebenden Plasmaschichten nicht möglich. Die Neutrinos jedoch, die bei den Fusionsreaktionen im Sonneninneren in großer Zahl entstehen, wechselwirken nur schwach und können das Plasma praktisch ungehindert durchdringen. Ein Photon benötigt typischerweise einige 1000 Jahre, bis es an die Sonnenoberfläche diffundiert; ein Neutrino benötigt dafür nur einige Sekunden.
Später nutzte man Neutrinos auch zur Beobachtung von kosmischen Objekten und Ereignissen jenseits unseres Sonnensystems. Sie sind die einzigen bekannten Teilchen, die von interstellarer Materie nicht deutlich beeinflusst werden. Elektromagnetische Signale können von Staub- und Gaswolken abgeschirmt werden oder aber bei der Detektion auf der Erde von kosmischer Strahlung überdeckt werden. Die kosmische Strahlung ihrerseits, in Form von superschnellen Protonen und Atomkernen, kann sich aufgrund des GZK-Cutoff (Wechselwirkung mit Hintergrundstrahlung) nicht weiter als 100 Megaparsec ausbreiten. Auch das Zentrum unserer Galaxie ist wegen dichten Gases und zahlloser heller Sterne von direkter Beobachtung ausgeschlossen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Neutrinos aus dem galaktischen Zentrum in naher Zukunft auf der Erde gemessen werden können. Ebenfalls eine wichtige Rolle spielen Neutrinos bei der Beobachtung von Supernovae, die etwa 99 % ihrer Energie in einem Neutrinoblitz freisetzen. Die entstandenen Neutrinos lassen sich auf der Erde nachweisen und geben Informationen über die Vorgänge während einer Supernova. So wurden im Jahre 1987 Neutrinos nachgewiesen, die von der Supernova 1987A aus der Großen Magellanschen Wolke stammten, 11 im Kamiokande,[15] 8 im Irvine Michigan Brookhaven Experiment,[16] 5 im Mont Blanc Underground Neutrino Observatory[17] und möglicherweise 5 im Baksan-Detektor.[18][19] Dies sind bis heute die einzigen nachgewiesenen Neutrinos, die sicher aus einer Supernova stammen, denn diese wurde wenige Stunden später mit Teleskopen beobachtet.
Experimente wie IceCube, Amanda, Antares und Nestor haben den Nachweis kosmogener Neutrinos zum Ziel. IceCube ist das derzeitig größte Neutrino-Experiment.
Das bereits im vorhergehenden Abschnitt Astrophysik genannte Experiment IceCube ist ein Hochenergie-Neutrino-Observatorium mit etwa 260 Mitarbeitern. Es wurde 2010 im Eis des Südpols fertiggestellt und hat ein Volumen von 1 km³. Die Reaktion der Hochenergie-Neutrinos mit den Elementarteilchen des Eises wird mit diesem Detektor beobachtet und ausgewertet.
Bekannte Neutrinodetektoren sind weiterhin bzw. einerseits die radiochemischen Detektoren (z. B. das Chlorexperiment in der Homestake-Goldmine, USA oder der GALLEX-Detektor im Gran-Sasso-Tunnel in Italien), andererseits die auf dem Tscherenkow-Effekt basierenden Detektoren, hier vor allem das Sudbury Neutrino Observatory (SNO) und Super-Kamiokande. Sie weisen solare und atmosphärische Neutrinos nach und erlauben u. a. die Messung von Neutrinooszillationen und damit Rückschlüsse auf die Differenzen der Neutrinomassen, da die im Sonneninneren ablaufenden Reaktionen und somit die Neutrinoemission der Sonne gut bekannt sind. Experimente wie das Double-Chooz-Experiment oder der seit 2002 arbeitende KamLAND-Detektor[20] im Kamioka Neutrino Observatory sind in der Lage, über den inversen Betazerfall Geoneutrinos und Reaktorneutrinos nachzuweisen, und liefern komplementäre Information aus einem Bereich, der von solaren Neutrinodetektoren nicht abgedeckt wird.
Einer der derzeit größten Neutrino-Detektoren namens MINOS steht unterirdisch in einer Eisenmine in den USA, 750 Kilometer vom Forschungszentrum Fermilab entfernt. Von diesem Forschungszentrum wird ein Neutrinostrahl in Richtung des Detektors ausgestrahlt, wo dann gezählt wird, wie viele der Neutrinos sich während des unterirdischen Fluges umwandeln.
Das CNGS-Experiment (CERN Neutrinos to Gran Sasso) untersucht seit 2007 die Physik der Neutrinos. Dazu wird ein Neutrinostrahl vom CERN über eine Entfernung von 732 km durch die Erdkruste zum Gran-Sasso-Laboratorium in Italien geschickt und dort detektiert. Einige der Myon-Neutrinos wandeln sich unterwegs in andere Neutrinoarten (fast ausschließlich Tau-Neutrinos) um, die vom OPERA-Detektor (Oscillation Project with Emulsion-tRacking Apparatus) nachgewiesen werden. Für die damit zusammenhängenden Geschwindigkeitsmessungen siehe den Abschnitt Geschwindigkeit.
Forscher des Sandia National Laboratories wollen den Nachweis von Antineutrinos dazu nutzen, die Produktion von Plutonium in Kernreaktoren zu messen, damit die IAEO nicht mehr auf Schätzungen angewiesen ist und niemand mehr etwas für den Bau von Nuklearwaffen abzweigen kann. Wegen der extrem hohen Produktionsrate von Antineutrinos in Kernreaktoren würde schon ein Detektor mit 1 m³ Detektorflüssigkeit vor dem Kernkraftwerk ausreichen.[21]
Forschern der University of Rochester und North Carolina State University ist es 2012 zum ersten Mal gelungen, eine Nachricht mit Hilfe von Neutrinos durch feste Materie zu senden. Ein Protonenbeschleuniger erzeugte einen Neutrinostrahl, welcher 100 Meter unter der Erde von einem Neutrinodetektor erfasst wurde.[22]