Der Karlsruher Physikkurs (kurz: KPK) ist ein von Physikdidaktikern (insbesondere Gottfried Falk, Wolfgang Ruppel, Friedrich Herrmann) am Institut für Didaktik der Physik[1] der Universität Karlsruhe ausgearbeiteter Vorschlag zur Neustrukturierung des Physikunterrichts in Schule und Hochschule. Darüber hinaus hat auch der Physiko-Chemiker Georg Job wichtige Beiträge zu diesem Kurs geliefert.
Wesentlicher Anspruch des Kurses ist, die Kompetenzen in den physikalischen Fachrichtungen Mechanik, Wärmelehre, Elektrizitätslehre und Atomphysik durch ein auf der Gibbsschen Formulierung der Thermodynamik[2] aufbauendes Bilanzierungskonzept effektiver zu vermitteln als in konventionellen Kursen. Der Karlsruher Physikkurs wird fachlich und fachdidaktisch kontrovers diskutiert. Ein unabhängiger Nachweis für die Effektivität ist nicht erbracht.
In einem Gutachten, das von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) in Auftrag gegeben wurde, und das am 12. Februar 2013 veröffentlicht wurde, wird dem Karlsruher Physikkurs die fachliche Fundierung abgesprochen. Die DPG rät von einem Einsatz in der physikalischen Ausbildung nachdrücklich ab.[3]
Zentrales Element des Kurses ist die Unterscheidung zwischen intensiven und extensiven Größen und die Formulierung von Bilanzgleichungen. Über verschiedene Teilbereiche der Physik hinweg wird durch begriffliche Analogien eine Vernetzung angestrebt. Diese soll erfolgen, da stets von extensiven mengenartigen Größen wie der elektrischen Ladung, der Entropie oder dem Impuls und ihren intensiven Partnergrößen wie dem elektrischen Potential, der Temperatur bzw. der Geschwindigkeit gesprochen wird und die Vorstellung betont wird, dass eine Differenz der intensiven Größe einen Antrieb für den Strom der jeweiligen extensiven Partnergröße bedeutet.
In der Mechanik wird der Impuls an den Anfang gestellt. Er wird als eine „substanzartige“ Größe verstanden, die ähnlich wie die Ladung in der Elektrizitätslehre in einem Körper „gespeichert“ und auf einen anderen übertragen werden kann. Der Impuls wird somit als „Grundgröße“ eingeführt mit der Einheit „Huygens“, die es im vorherrschenden internationalen Einheitensystem nicht gibt. Begründet wird die Einführung der neuen Grundgröße damit, dass der Impuls der klassischen Mechanik nur den Sonderfall eines allgemeinen Impulsbegriffs darstellt. Die Übertragung von Impuls von einem Körper auf einen anderen wird analog zur Elektrizitätslehre Impulsstrom genannt. An Stelle der Kraft tritt daher die Impulsstromstärke. Sie ist die Ursache für Beschleunigungen und mechanische Spannungen. Die Richtung des Impulsstroms wird ähnlich wie die Richtung des elektrischen Stroms durch eine willkürliche Konvention festgelegt. Dadurch wird sie von der Ausrichtung des Koordinatensystems abhängig.[4] In einer homogenen Flüssigkeit ohne Scherkräfte hätte in diesem Bild der Druck die Bezeichnung Impulsstromdichte (Impulsstromstärke durch Querschnittsfläche). Die Bedeutung der Impulsstromdichte geht jedoch über die des Drucks hinaus, da sie eine tensorielle Größe ist, der Druck jedoch nur eine skalare. Dies muss im Unterricht bis weit in die Hochschulkonzepte hinein übergangen werden, ermöglicht allerdings auch eine konsistente Beschreibung von Zug-, Schub- und Scherkräften.
In der Thermodynamik bedeutet das Karlsruher Konzept, dass die komplizierte, aber grundlegende Größe Entropie (siehe dazu 2. Hauptsatz der Thermodynamik) viel früher als üblich eingeführt wird. Dies geschieht nach Ansicht der Karlsruher Didaktiker u. a. als genaue und zugleich verständliche Präzisierung von Vorstellungen, die in der Umgangssprache als Wärme bezeichnet werden.[4] Verwendet wird dabei die nicht SI-konforme Einheit „Carnot“.
In der Atomphysik wird auf die üblichen Atommodelle, beispielsweise auf das Bohrsche Atommodell, verzichtet. Stattdessen werden die Elektronen im Atom durch das sogenannte Elektronium modelliert. Elektronium ist demnach eine kontinuierliche, über das ganze Atom verteilte fiktive Substanz, deren Dichte durch die quantenmechanische Aufenthaltswahrscheinlichkeitsdichte gegeben ist.[5]
1988 bis 1992 wurde der Karlsruher Physikkurs an etwa 20 Schulen in Baden-Württemberg erprobt, im Bildungsplan dieses Bundeslandes befand sich ab 1994 eine Sonderklausel, die den Einsatz der Kursmaterialien im Unterricht erlaubte. Im Jahr 2004 wurden die Lehrbücher zum Kurs im Bundesland Baden-Württemberg für die Sekundarstufe I zugelassen.[6] Am Europa-Gymnasium Wörth in Rheinland-Pfalz, wo der Physikkurs erprobt wird,[7] wurde in einem Sonderkurs 2012 auch das Abitur nach diesem Modell abgelegt.[8]
Der Karlsruher Physikkurs wurde auch an einigen Gymnasien in Shanghai erprobt[9], im September 2014 wurde ein auf dem Karlsruher Physikkurs basierendes Lehrwerk in China als Schulbuch zugelassen.[10] Übersetzungen liegen auch vor in Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Schwedisch und Spanisch.[11]
Parallel zum Karlsruher Physikkurs hat Andrea diSessa ebenfalls vorgeschlagen, bei der Lehre der elementaren Mechanik den Impulsstrom zu verwenden. In seiner Veröffentlichung wird jedoch deutlich, dass er an einen Einsatz dieses Konzepts in der Sekundarstufe I nicht gedacht hat. Außerdem weist er darauf hin, dass im Gegensatz zum elektrischen Strom beim Impulsstrom eine Messung der Stromrichtung nicht möglich ist.[12]
Aufbauend auf dem Karlsruher Physikkurs ist an der Zürcher Hochschule Winterthur von Werner Maurer und Hans Ulrich Fuchs die Physik der dynamischen Systeme entwickelt worden, die systemdynamische Modellierungstechnik benutzt und sich an der mathematischen Sprache der Kontinuumsphysik orientiert.[13][14] An der heutigen Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften wird die Physik in mehreren Ingenieurstudiengängen auf dieser Grundlage gelehrt.[15]
In der Nachfolge der Diskussion um das Gutachten der DPG (s.u.) sind die Bücher des KPK in Bayern und Thüringen nicht für den Einsatz in der Schule zugelassen.[16]
Nach kritischen Stellungnahmen des Deutschen Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts MNU wurde 1998 ein Symposium abgehalten, bei dem sich eine gewisse Annäherung der Standpunkte ergab.[17]
Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) ließ 2012 ein Gutachten zum Karlsruher Physikkurs anfertigen,[18] welches 2013 noch ergänzt wurde,[19] jedoch nicht unumstritten ist.[20][21] Als Ergebnis lehnt die DPG den Physikkurs deutlich ab.[3] Sie begründet ihre Ablehnung damit, dass der Karlsruher Physikkurs eine grundsätzlich falsche Vorstellung von Physik erzeuge und den Schülerinnen und Schülern Konzepte beibringe, die inhaltlich fragwürdig bzw. falsch seien. So sei beispielsweise die Richtung des Impulsstroms eine willkürliche Konvention und experimentell nicht überprüfbar. Außerdem bemängelt die DPG die Deutung der Entropie als „Wärme“. Der Begriff Wärme stehe in der Thermodynamik für eine klar definierte Prozessgröße (z. B. spreche man von der „erzeugten“ bzw. „aufgenommenen Wärmeenergie“), was von der Zustandsgröße „Entropie“ zu trennen sei, wie man schon an den verschiedenen Einheiten sehe. Schließlich kritisiert sie, dass die Formulierungen des Karlsruher Physikkurs so weit von der etablierten Fachsprache entfernt seien, dass sie von keinem Techniker oder Wissenschaftler verstanden werden könnten, nicht einmal an der Hochschule.
„Der KPK ist als Grundlage eines physikalischen Unterrichts ebenso ungeeignet wie als Leitlinie zur Formulierung physikalischer Lehr- oder Bildungspläne. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft rät mit allem Nachdruck davon ab, den KPK in der physikalischen Ausbildung zu verwenden.“