Der Atomkern ist der positiv geladene innere Teil eines Atoms. Die Unterteilung eines Atoms in Atomkern und Atomhülle geht auf Ernest Rutherford zurück, der 1911 in Streuexperimenten zeigte, dass Atome aus einem winzigen, kompakten Kern und einer ihn umgebenden Hülle bestehen müssen. Dabei hat der Atomkern zwar einen 20.000 bis 150.000 Mal kleineren Durchmesser als die Atomhülle, beherbergt aber mehr als 99,9 Prozent der Masse des gesamten Atoms. Der Atomkern besteht aus Protonen und (außer bei 1H) Neutronen. Der Atomkern bestimmt durch seine Protonenzahl (auch Kernladungszahl, Ordnungszahl) die Anzahl der Elektronen eines elektrisch neutralen Atoms und dadurch indirekt über die Struktur der Elektronenhülle die chemischen Eigenschaften.
In Begriffen, die den Atomkern betreffen, wurde in der Anfangszeit meist die Vorsilbe „Atom-“ verwendet, später weitgehend abgelöst durch das nach dem lateinischen Wort nucleus (Nuss- oder Pinienkern) entlehnte Präfix Nuklear-. Es bezeichnet Dinge oder Wirkungen, die mit Eigenschaften oder mit Reaktionen von Atomkernen zusammenhängen, beispielsweise Nuklearmedizin. Die einzelnen Atomsorten werden nach dem Aufbau ihrer Atomkerne als Nuklide bezeichnet.
Kenntnisse über die Eigenschaften von Atomkernen bzw. der Kernmaterie sind u. a. zum Verstehen der Radioaktivität, der Kernspaltung (Kernkraftwerk, Kernreaktor, Kernwaffe) und der Kernfusion (Kernfusionsreaktor, Wasserstoffbombe) notwendig, aber auch der Magnetresonanztomographie (MRT) in der Medizin sowie der Hyperfeinstruktur in der Spektroskopie.
Der Atomkern befindet sich, anschaulich gesprochen, im Zentrum des Atoms; sein Durchmesser beträgt etwa 1⁄20.000 bis 1⁄150.000 des Durchmessers der Elektronenhülle, konzentriert aber in sich mehr als 99,9 Prozent der Masse des gesamten Atoms.
Die Dichte des Kerns (das Verhältnis von Kernmasse zu Kernvolumen) ist für alle Kerne annähernd gleich und beträgt rund 2·1017 kg/m³.[1]
Der Kern ist aufgebaut aus Protonen und Neutronen, die zusammen auch Nukleonen genannt werden. Die Zahl der Protonen wird Kernladungszahl, die Gesamtzahl der Nukleonen Massenzahl des Kerns genannt (für Genaueres zur Masse des Kerns siehe Kernmasse oder Massendefekt). Die Massenzahlen der auf der Erde natürlich vorkommenden Atome variieren von 1 (Wasserstoff) bis 244 (Plutonium). Die makroskopische Dichte der kondensierten Materie dagegen variiert viel weniger, weil der Atomradius von der Atomhülle bestimmt wird, die stärker mit dem chemischen Charakter der Atome variiert als mit der Massenzahl. Trotzdem gehören so genannte schwere Atomkerne auch zu umgangssprachlich/technisch schweren Elementen. Beispielsweise hat Lithium (Massenzahlen 6 und 7) eine Dichte von 0,53 g/cm³, Gold (Massenzahl 197) dagegen von 19,3 g/cm³.
Protonen sind elektrisch positiv geladen, Neutronen ungeladen. Daher ist der Atomkern positiv geladen und kann durch die Coulombkraft negativ geladene Elektronen an sich binden. Da die elektrische Ladung des Elektrons bis auf das Vorzeichen gleich der Ladung des Protons ist, muss ein nach außen hin elektrisch neutrales Atom ebenso viele Elektronen in der Atomhülle besitzen wie Protonen im Kern. Da die Atomhülle weitgehend die chemischen Eigenschaften bestimmt, legt die Kernladungszahl auch fest, zu welchem Element das Atom gehört, sie ist die chemische Ordnungszahl. Neutronen haben etwa die gleiche Masse wie Protonen. Ihre Zahl hat nur geringen Einfluss auf die chemischen Eigenschaften des Atoms, ist aber entscheidend für die Stabilität oder Instabilität (Radioaktivität) des Kerns. Werden durch chemische oder physikalische Effekte Elektronen entfernt oder hinzugefügt, ist das Atom nach außen hin elektrisch geladen und wird Ion genannt. Im Atomkern ändert sich dadurch nichts. Abgesehen vom radioaktiven Zerfall – der spontan eintritt – kann sich die Zahl der Protonen oder Neutronen im Kern nur durch eine Kernreaktion ändern, also infolge eines Zusammenstoßes mit anderen Teilchen.
Eine durch Ordnungszahl und Massenzahl festgelegte Atom- oder Atomkernsorte wird Nuklid genannt. Als Isomere werden Atomkernsorten in langlebigen Anregungsstufen des Kerns (siehe unten) bezeichnet; sie zählen als eigene Nuklide.[2] Unterscheidet man Kerne (oder ganze Atome) desselben Elements, also mit gleicher Protonenzahl, nach ihrer Anzahl von Neutronen, spricht man von den Isotopen des betreffenden Elements. Bezeichnet werden Nuklide mit dem chemischen Elementsymbol und der Massenzahl, wie z. B. das häufigste Kohlenstoffisotop 12C oder das häufigste Eisenisotop 56Fe (bei Isomeren noch mit einem Zusatz wie „m“ für „metastabil“). Üblich, aber redundant ist auch die Schreibweise mit Massenzahl und Ordnungszahl: $ {}_{26}^{56}\mathrm {Fe} $.
Es sind (Stand von 2003) insgesamt etwa 3200 langlebige Nuklide bekannt,[3] die sich auf etwa 2700 Isotope[4] und 118 bekannte Elemente von Wasserstoff bis zum Oganesson verteilen. Darunter gibt es ca. 250 stabile Isotope. Die Stabilität eines Nuklids hängt von der Zahl der Protonen und der Neutronen ab. Ist die Protonenzahl gleich 43 oder 61, oder größer als 82, oder ist das Verhältnis beider Zahlen ungünstig, ist der Kern instabil, d. h. radioaktiv, und wandelt sich in einen stabileren Kern um.
Die positiv geladenen Protonen im Kern stoßen sich aufgrund der Coulombkraft gegenseitig ab. Da der Kern trotzdem nicht auseinanderfliegt, muss im Kern eine weitere Kraft existieren, mit der sich die Nukleonen gegenseitig anziehen und die stärker als die Coulombkraft ist. Diese Kraft wird als Kernkraft bezeichnet (nicht zu verwechseln mit dem umgangssprachlichen Ausdruck „Kernkraft“ für Kernenergie); sie ist eine Restwechselwirkung der Starken Wechselwirkung. Die Kernkraft ist bis heute nur näherungsweise beschrieben. Ihre Aufklärung ist unter anderem Gegenstand der Kernphysik. Gesichert ist allerdings die sehr kurze Reichweite der Kernkraft, die in der Größenordnung des Nukleon-Durchmessers (etwa 1 fm = 10−15 m) liegt. Die sehr kurze Reichweite begrenzt die mögliche Größe von Atomkernen, denn ein Proton an der „Oberfläche“ eines großen Kerns spürt nur die Anziehung seiner nächsten Nachbar-Nukleonen, die Coulomb-Abstoßung hingegen von allen anderen Protonen des Kerns. Sind genügend viele andere Protonen vorhanden, überwiegt daher schließlich die Abstoßung. Mit der Protonenzahl 82 ist Blei das letzte Element mit stabilen Isotopen, alle weiteren sind radioaktiv (s. Zerfallsreihe). Die größte in natürlichen Vorkommen beobachtete Kernladung ist 92 (Uran). Kerne mit noch mehr Protonen (Transurane) „leben“ nicht lange genug, um als primordiale Nuklide vorzukommen; sie können nur nach künstlicher Herstellung in Kernreaktionen beobachtet werden.
Die Bindungsenergie entspricht der Arbeit, die aufgewandt werden müsste, um den Kern in seine einzelnen Nukleonen zu zerlegen. Umgekehrt würde diese Bindungsenergie freigesetzt, wenn es gelänge, einen Atomkern aus freien Protonen und Neutronen zusammenzusetzen. Wegen der Äquivalenz von Masse und Energie führt die Bildung des Kerns zu einem Massendefekt. Das heißt, jeder Atomkern (außer 1H) hat eine geringere Masse, als sich beim Addieren der ihn bildenden – ungebundenen – Nukleonen ergibt.
Die Bindungsenergie pro Nukleon ist in verschiedenen Kernen verschieden hoch. Auf diesen Unterschieden der Bindungsenergie pro Nukleon beruht der Energiegewinn oder -verlust bei Kernreaktionen, also insbesondere die Möglichkeit, Energie im technischen Maßstab aus Kernreaktionen zu gewinnen. Bei der Fusion von He-4 aus kleineren Kernen ist diese Energie besonders hoch, was für die technische Kernfusion ausgenutzt werden soll. Energie wird frei bei Kernfusionen bis zur Entstehung von Eisen, weshalb die Fusionen in Sternen dort enden. Für die Fusion zu Elementen höherer Ordnungszahlen ist dagegen Energiezufuhr notwendig, wie sie erst bei der Explosion am Lebensende großer Sterne als Supernova zur Verfügung steht. Hingegen wird bei der Spaltung dieser schweren Atomkerne Energie frei, was bei U-235 und anderem spaltbaren Material technisch zur Energiegewinnung ausgenutzt wird.
Atomkerne haben wie die Elektronenhülle diskrete Energieniveaus. (Die Folge dieser Niveaus setzt sich auch oberhalb der Bindungsenergie eines Nukleons noch fort, was sich beispielsweise in den Resonanzen der Anregungsfunktion von Kernreaktionen zeigt.) Ein ungestörter Kern befindet sich normalerweise in seinem tiefsten Energieniveau, dem Grundzustand. Die höheren Niveaus (angeregte Zustände) sind nicht stabil, sondern der Kern geht früher oder später von dort in einen stabileren Zustand über, meist den Grundzustand, wobei die Energiedifferenz als Photon (Gammastrahlung) oder an ein Elektron der K-Schale abgegeben wird. Besonders langlebige (metastabile) angeregte Zustände werden als Isomere bezeichnet.
Der Begriff Radioaktivität bezeichnet die Eigenschaft instabiler Atomkerne, sich spontan unter Energieabgabe umzuwandeln. Von den meisten Elementen existieren nur wenige stabile Isotope oder sogar nur eins; bei den Ordnungszahlen 43 (Technetium), 61 (Promethium) und allen oberhalb 82 (Blei) gibt es keine stabilen Isotope.
Bei den instabilen Atomkernen werden im Wesentlichen drei Zerfallsarten unterschieden:
Wegen der oben genannten Existenz von kurzreichweitigen anziehenden und langreichweitigen abstoßenden Kräften im Kern verringert sich die Bindungsenergie pro Nukleon zu hohen Massenzahlen hin. Daher tritt bei manchen Nukliden mit Massenzahlen oberhalb etwa 140 Alphazerfall auf, oberhalb etwa 230 auch spontane Spaltung. Beide Zerfallsarten führen zu Nukliden mit geringeren Massenzahlen.
Beim Betazerfall wird aus dem Kern eines Radionuklids ein Elektron oder Positron abgegeben. Dieses entsteht, indem sich im Kern eines der Neutronen in ein Proton, ein Elektron-Antineutrino und ein Elektron (Beta-Minus-Zerfall) bzw. eines der Protonen in ein Neutron, ein Elektron-Neutrino und ein Positron (Beta-Plus-Zerfall) umwandelt. Die Summe der elektrischen Ladungen und die Anzahl der Nukleonen bleibt dabei erhalten, aber die chemische Ordnungszahl ändert sich um ±1.
Die Abgabe von Gammastrahlung setzt voraus, dass der Kern in einem angeregten Zustand ist (vgl. Abschnitt Energieniveaus) und tritt daher hauptsächlich unmittelbar nach einem Alpha- oder Betazerfall auf, sofern dieser nicht direkt zum Grundzustand des Tochterkerns führt. Deshalb wird die Gamma-Emission analog den anderen Prozessen der Radioaktivität manchmal als Gamma„zerfall“ bezeichnet.
In der Kernphysik existiert kein einheitliches Modell zur umfassenden Beschreibung aller Vorgänge im Atomkern. Im Vergleich zu der Atomphysik mit dem erfolgreichen quantenmechanischen Atommodell fehlt im Kern ein besonderes, massives Kraftzentrum, und die Kräfte zwischen den Nukleonen sind um vieles komplizierter als die rein elektromagnetische Wechselwirkung im Atom. Daher werden verschiedene Kernmodelle für unterschiedliche Fragestellungen benutzt. Die wichtigsten sind:
Neben diesen Modellen gibt es weitere, die zu spezielleren Zwecken herangezogen werden:
An den Modellen des Atomkerns zeigen sich zwei entgegengesetzte, stark vereinfachende Ausgangspunkte:
Realistische Modelle zeichnen sich durch eine geeignete Kombination beider Ansätze aus.
Zwischen den einzelnen Modellen lassen sich folgende Beziehungen aufstellen:
Jedes der genannten Modelle ist nur für einen bestimmten Bereich der nuklearen Phänomene anwendbar, eine widerspruchsfreie und umfassende Theorie konnte noch nicht formuliert werden.
Das Schlüsselexperiment, das zur Entdeckung des Atomkerns führte, gelang dem Doktoranden Ernest Marsden im Labor des Nobelpreisträgers Ernest Rutherford am 20. Dezember 1910.[5] Bei Kontrollversuchen zur Herstellung eines scharf begrenzten Strahls von α-Teilchen hatte er bemerkt, dass die Teilchen durch dünne Metallfolien zwar zu 99,99 % fast ohne Ablenkung hindurchgehen, in vereinzelten Fällen aber auch um mehr als 90° abgelenkt werden. Die starke Ablenkung stand im Widerspruch zu dem erwarteten Ergebnis: Nach dem damals angenommenen Thomsonschen Atommodell („Rosinenkuchen-Modell“, englisch plum pudding model) hätte das Atom aus Elektronen bestanden, die in einer diffusen positiv geladenen Wolke schwebten. Bekannt war, dass α-Teilchen ionisierte Atome des Edelgases Helium sind und weder von den positiv geladenen Wolken noch von zahlreichen Zusammenstößen mit den Elektronen so weit von ihrer Bahn abweichen könnten. Zweck der Versuche war es eigentlich, die Eigenschaften dieser Wolke näher zu untersuchen. Rutherford interpretierte das unerwartete Ergebnis so, dass die Atome der Folie größtenteils aus leerem Raum bestanden, der die Alphateilchen ungehindert passieren ließ, während kleine, elektrisch geladene und sehr massive Partikel darin existierten, die die Alphateilchen bei einem der seltenen besonders engen Zusammenstöße sehr stark aus ihrer Bahn werfen konnten. Kurze Überschlagsrechnungen zeigten Rutherford, dass diese „Kerne“ mindestens 1000 Mal kleiner als das Atom sein mussten, aber praktisch seine ganze Masse enthalten.