Die Euler’schen Kreiselgleichungen oder uneindeutig Euler’schen Gleichungen sind Bewegungsgleichungen für die Rotation eines starren Körpers. Es sind die Komponenten des für den Starrkörper in seinem Hauptachsensystem aufgeschriebenen Drallsatzes und stellen die wichtigste Grundgleichung der Kreiseltheorie dar.
Wird der Körper einem Drehmoment ausgesetzt, entwickeln sich Kreiselwirkungen, die versuchen, die Eigendrehung mit der erzwungenen Drehung in Deckung zu bringen[1]. Die Kreiselwirkungen sind die summierten Drehmomente der Eulerkräfte und Zentrifugalkräfte an allen Massenpunkten des Körpers. Das Moment und die Kreiselwirkungen befinden sich im dynamischen Gleichgewicht, was die Kreiselgleichungen ausdrücken:
Darin sind jeweils für $ k=1,2,3 $
im Hauptachsensystem. Gelegentlich wird auch die dazu gehörige Vektorgleichung[2]
mit dem Trägheitstensor $ \mathbf {\Theta } $ als Euler’sche Kreiselgleichung angegeben. Hier bildet „·“ die Vektortransformation, „ד das Kreuzprodukt und $ {\tfrac {\mathrm {d} _{r}}{\mathrm {d} t}} $ die relative Zeitableitung im Hauptachsensystem.
Die Drehmomente, Hauptträgheitsmomente und Drehimpulse werden mit einem Bezugspunkt berechnet, für den sich der Massenmittelpunkt oder ein unbeschleunigter, in einem Inertialsystem ruhender Stützpunkt eignen, siehe Drallsatz am starren Körper.
Die ersten Summanden auf den rechten Seiten, bestehend aus den Winkelbeschleunigungen und Drehimpulsänderungen, resultieren aus den Kreiselwirkungen der Euler-Kräfte und die anderen, in den Winkelgeschwindigkeiten und Drehimpulsen quadratischen Terme berücksichtigen die Kreiselwirkungen der Zentrifugalkräfte. Wenn die Bewegung bekannt ist, dann können aus diesen Gleichungen die Momente berechnet werden, die im Bezugspunkt eingeleitet werden müssen, damit der Körper die vorgegebene Bewegung ausführt.
Die Kreiselgleichungen wurden von Leonhard Euler 1750 aufgestellt und später zum Drallsatz weiterentwickelt.[3]
Die Euler-Poisson-Gleichungen sind die spezifischen Kreiselgleichungen für den schweren Kreisel, bei dem das äußere Moment von der Schwerkraft herrührt. Die klassische Kreiseltheorie ist fast ausschließlich dem schweren Kreisel mit Stützpunkt gewidmet und es wurde viel Aufwand in das Auffinden exakter Lösungen gesteckt. Eine Auflistung einiger dieser Lösungen[4] findet sich im Hauptartikel.
Ein Kugelkreisel ist ein Kreisel mit drei identischen Hauptträgheitsmomenten Θ, sodass sich die Kreiselgleichungen dann auf
reduzieren. Die Winkelbeschleunigung ist beim Kugelkreisel also parallel zum angreifenden Moment. Beim Kugelkreisel sind die Fliehkräfte im Körper immer im mechanischen Gleichgewicht. Ein Vergleich mit den Bewegungsgleichungen bei einer Translationsbewegung zeigt, dass der Kugelkreisel das genaue Analogon des Massenpunkts bei Rotationsbewegungen ist.
Bei einer ebenen Bewegung um eine Hauptträgheitsachse, beispielsweise die 3-Achse, entfallen Drehungen und Momente um die 1- und 2-Achsen, und die Gleichungen reduzieren sich auf
wobei φ der Drehwinkel um die 3-Achse ist.
Im ebenen Fall sind die Kreiselgleichungen oftmals analytisch lösbar, wofür die beiden folgenden Fälle Beispiele sind.
Parallel zur Tischplatte soll eine Billardkugel mit Radius r, Masse m und Massenträgheitsmoment Θ so angestoßen werden, dass sie nicht über den Tisch rutscht, siehe Abb. 1. Es stellt sich die Frage, in welcher Höhe h über der Platte die Kraft F eingeleitet werden muss, damit für das schlupflose Rollen keine Reibkraft am Tisch notwendig ist.
Die exzentrisch an der Kugel angreifende horizontale Kraft entwickelt ein Moment M = -(h-r)F um den Massenmittelpunkt, das die Kugel gemäß der Kreiselgleichung
in Drehung versetzt. Das Moment ist negativ, weil es entgegen der Zählrichtung des Drehwinkels φ wirkt. Außerdem beschleunigt die Kraft die Kugel gemäß dem Gesetz „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“:
Die Beschleunigung $ {\ddot {x}} $ ist parallel zum Tisch in Richtung der Kraft. Die Bedingung für schlupfloses Rollen
schließt das Gleichungssystem für die drei Unbekannten h, φ und x ab. Damit berechnet sich
Bei einer massiven homogenen Kugel ist das Massenträgheitsmoment Θ = 2⁄5mr² und somit
wobei d = 2r der Durchmesser der Kugel ist.
In einer ebenen Bewegung rolle ein Rad mit Radius r, Masse m und Massenträgheitsmoment Θ eine mit dem Winkel α geneigte Ebene unter Einfluss einer Schwerebeschleunigung g hinab, siehe Abb. 2. Weil sich das Rad dabei auch translatorisch bewegt, geht auch seine Masse in die Beschleunigung ein. Die Beschleunigung wächst jedoch, wenn das Massenträgheitsmoment abnimmt.
Aufgrund des schlupflosen Abrollens entsteht am Aufstandspunkt des Rades eine Reibkraft R, die das Rad in Drehung versetzt, denn es entspricht einem Moment M=-r R um den Massenmittelpunkt. Das Moment ist negativ, weil es entgegen der Zählrichtung des Drehwinkels φ arbeitet. Damit lautet die Kreiselgleichung im ebenen Fall:
Die auf das Rad hangabwärts wirkende Komponente F der Gewichtskraft mg hat die Größe F=mgsin(α). Ihr entgegen steht die Reibkraft, sodass nach dem zweiten newtonschen Gesetz gilt:
worin $ {\ddot {x}} $ die hangabwärts zählende Beschleunigung des Rades und sin die Sinusfunktion ist. Die Bedingung für schlupfloses Rollen $ {\ddot {x}}=-r{\ddot {\varphi }} $ schließt das Gleichungssystem für die drei Unbekannten R, φ und x ab und es ergibt sich
Ein hangabwärts, reibungsfrei rutschender Klotz erfährt die Beschleunigung $ {\ddot {x}}=g\sin(\alpha ) $, die größer ist als die des Rades, denn beim Rad wird ein Teil der potentiellen Energie in Rotationsenergie umgesetzt, die dann für die Translation fehlt.
Ein bemerkenswerter Anwendungsfall der Euler’schen Kreiselgleichungen ist die "Perle auf rotierendem Kreisring im Schwerefeld"[5][6], das konische oder Fliehkraftpendel, denn es hat überraschende Eigenschaften. In Worten der Kreiseltheorie handelt es sich um einen schweren Kreisel, der in einem Punkt festgehalten wird und bei dem die Eigendrehung um die Pendelachse durch äußere Momente verhindert und die Präzessionsgeschwindigkeit konstant gehalten wird. Komplexere Eigenschaften treten bei beliebiger Lage des Massenmittelpunkts und anfänglicher Ausrichtung der Hauptachsen auf. Vereinfachungen ergeben sich mit Massenmittelpunkt auf der 1-Achse und permanent horizontaler 3-Achse des Hauptachsensystems.
Die in der Kreiseltheorie üblichen Definitionen der Winkel und Winkelgeschwindigkeiten werden übernommen. Insbesondere wird die z-Komponente der 2-Achse
bei horizontaler 3-Achse (ϑ ≡ 90°) benötigt, die identisch mit der 2-Komponente des Einheitsvektors ist, der vertikal nach oben weist. Die Funktionen sin und cos bilden den Sinus und Kosinus.
Die Winkelgeschwindigkeiten lauten unter den hiesigen Bedingungen:
Der Winkel ϑ ist unveränderlich, wenn er anfangs keine Zeitableitung hat und dauerhaft keine Beschleunigung erfährt.
Die 1- oder Pendelachse trägt im Abstand s > 0 vom Fixpunkt den Massenmittelpunkt, dessen Gewichtskraft mg somit ein Schweremoment auf das Pendel ausübt. Zusätzlich zu diesem Schweremoment wirken äußere Momente M1,2 in 1- bzw. 2-Richtung des Hauptachsensystems, um Winkelbeschleunigungen von ϑ und μ zu unterdrücken. Die Kreiselgleichungen in 1- und 2-Richtung dienen nur der Bestimmung dieser Momente, die hier nicht interessieren. Bemerkenswert ist jedoch, dass diese Drehmomente eine zeitliche Änderung des vertikalen Drehimpulses verursachen[5], der bei schweren Kreiseln immer konstant ist.
Um die horizontale 3-Richtung kann das Pendel frei drehen und das Schweremoment in dieser Richtung ist -mgsn2 = -mgs cos(φ), siehe Kinematik oben und Euler-Poisson-Gleichungen. Damit liefert die dritte der Kreiselgleichungen
die Bewegungsgleichung
$ {\ddot {\varphi }}={\frac {1}{C}}[(A-B)\mu ^{2}\sin(\varphi )-mgs]\cos(\varphi ) $
|
(*)
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Darin sind A, B und C die Hauptträgheitsmomente um die 1-, 2- bzw. 3-Achse.
Im Gleichgewicht verschwindet in (*) die Winkelbeschleunigung:
Anders als beim sich selbst überlassenen Lagrange-Kreisel ist eine Präzession mit waagerechter Achse (φ = 0) nicht möglich. Mangels Eigendrehung gibt es hier keine Kreiselwirkung, die das Schweremoment ausgleichen könnte. Das Gleichgewicht mit lotrechter 1-Achse (φ = ±90°) ist allen Kreiseln zugänglich – auch dem Kugelkreisel, der nur dort Gleichgewicht findet. Bei A ≠ B ergeben sich die Gleichgewichtslagen aus
Wenn A - B dasselbe Vorzeichen wie sin(φ) hat, kann der Term in der eckigen Klammer null werden. Dazu muss
erfüllt sein. Das Pendel muss eine kritische Drehgeschwindigkeit μc überschreiten, damit diese Gleichgewichtslage abseits der Senkrechten existiert. Beim abgeplatteten Kreisel weist die 1-Achse im Gleichgewicht nach oben (ist A > B und sin(φ) > 0) und beim gestreckten nach unten (A < B und sin(φ) < 0).
Analog zum symmetrischen Kreisel wird das Pendel hier und im folgenden abgeplattet genannt, wenn A > B, und gestreckt, wenn B > A.
Multiplikation der Bewegungsgleichung (*) mit $ {\dot {\varphi }} $ ermöglicht eine Zeitintegration:
Die Integrationskonstante E ist die Energie des Pendels im rotierenden System:[5]
Die Energie und ihre Ableitungen (·)' nach φ ergeben sich mit der Abkürzung $ z:={\tfrac {mgs}{(A-B)\mu ^{2}}} $ zu
Beim gestreckten Kreisel ist B > A und z < 0 und beim abgeplattenten Kreisel ist B < A sowie z > 0. Stabilität liegt in einem Energieminimum vor, wo E' = 0 und E" > 0 ist. Die Energie ist in Gleichgewichtslagen stationär: bei sin(φ) = z oder cos(φ) = 0, wo sin(φ) = -1 oder sin(φ) = +1 ist:
Die Gleichung (*) kann um Gleichgewichtslagenφ0, wo z = sin(φ0) ist, linearisiert werden. Dazu wird φ = φ0+δ mit konstantem φ0 und kleiner Abweichung δ angenommen. Die Drehbeschleunigung
entwickelt sich mit den Additionstheoremen und sin(δ) ≈ δ, cos(δ) ≈ 1 zur Schwingungsgleichung
Beim gestreckten Kreisel ist B > A und der "Rückstellkoeffizient" vor δ immer positiv, weswegen der gestreckte Kreisel kleine Schwingungen um Gleichgewichtslagen ausführen kann. Beim abgeplattenten Kreisel ist wegen A > B der Rückstellkoeffizient negativ. Daher kann der abgeplattete Kreisel keine Schwingungen um Gleichgewichtslagen abseits der Senkrechten ausführen, was im Einklang mit den Ergebnissen aus der Energiebetrachtung ist.