Die substantielle Ableitung (auch materielle Ableitung oder lokale Ableitung plus konvektive Ableitung) beschreibt, mit welcher Rate sich ein gegebenes physikalisches Feld am Ort eines Fluidteilchens ändert, während dieses von einer Strömung durch das Feld getragen wird.
In mathematischer Hinsicht handelt es sich um die totale Ableitung des Feldes entlang der Bahn des Teilchens. Die vom Teilchen auf seiner Bahn wahrgenommene Änderung setzt sich zusammen aus zwei Komponenten: Der Änderung aufgrund unterschiedlicher Feldstärken an Orten, die das Teilchen nacheinander durchläuft, und einer eventuellen Zeitabhängigkeit des Feldes an dem vom Teilchen durchlaufenen Ort.
Das Feld kann ein extern vorgegebenes Feld sein, das von dem Fluid durchströmt wird, z. B. ein elektrisches oder magnetisches Feld, ein Gravitationsfeld, aber auch ein Gravitationspotential oder eine sonstige beliebige physikalische oder mathematische Größe, solange deren Ableitungen gebildet werden können. Das Feld kann auch eine Eigenschaft des strömenden Fluids beschreiben, z. B. seine Temperatur, seine Dichte, seinen Druck oder seine Enthalpiedichte. Die Beschreibung des Feldes erfolgt in diesen Fällen in der Regel vom Standpunkt eines ruhenden Beobachters aus.
Insbesondere kann das betrachtete Feld das Geschwindigkeitsfeld der Strömung selbst sein. Die substantielle Ableitung beschreibt in diesem Fall die Änderung der Geschwindigkeit des Teilchens, während es der Strömung folgt, also seine Beschleunigung in der (und durch die) Strömung. Die Ermittlung dieser Beschleunigung in Abhängigkeit von den auf das Teilchen wirkenden Kräften ist Ausgangspunkt der Fluiddynamik.
Im Folgenden wird die Bewegung des betrachteten Teilchens durch das Feld als strömungsbedingt betrachtet; es kann sich aber auch allgemeiner um die Bewegung eines Volumenelements während der Deformation eines elastischen oder inelastischen Mediums handeln. Die Kontinuumsmechanik behandelt alle diese Fälle auf einer gemeinsamen Basis.
Die substantielle Ableitung einer skalaren oder vektoriellen Feldgröße
wobei
: skalares oder vektorielles Feld. | |
: partielle Ableitung nach der Zeit | |
: Geschwindigkeitsvektor der Strömung am Ort | |
: Nabla-Operator | |
: Skalarprodukt |
Der erste Summand
Der zweite Summand
Handelt es sich bei
Handelt es sich um eine vektorielle Feldgröße
Die konvektive Änderung kann anschaulich wie folgt interpretiert werden. Sei
(wobei
Die substantielle Ableitung leitet sich aus dem Modell des mitbewegten Beobachters, welches auch als Lagrange'sche Betrachtungsweise bekannt ist, ab. Daneben existiert die Euler'sche Betrachtungsweise, welche einen feststehenden Beobachter nutzt und mit der lokalen Änderung verknüpft ist (nur bei der Betrachtung ohne Bewegung, wenn der konvektive Term herausfällt)
Als Beispiel betrachte man eine Seeoberfläche, deren Temperaturverteilung im ortsfesten Koordinatensystem
beschrieben wird. Das Wasser wird in Richtung der positiven x- und y-Achse, also von Südwesten nach Nordosten, wärmer (z. B. wegen einer Reihe warmer Zuflüsse). Zusätzlich wird der gesamte See durch Wärmezufuhr kontinuierlich erwärmt (z. B. durch Sonneneinstrahlung). Das Wasser ströme mit der Geschwindigkeit
von Südwesten nach Nordosten durch den See.
Die partielle Ableitung nach der Zeit beschreibt die Temperaturänderung für einen ortsfesten Beobachter, der bezüglich des Ufers ruhend im Wasser steht. Dieser Beobachter nimmt ausschließlich die Zeitabhängigkeit des Temperaturfelds am festen Beobachtungsort wahr. In diesem Beispiel ist die Zeitabhängigkeit für alle Orte dieselbe und beträgt:
Die substantielle Ableitung beschreibt die Temperaturänderung für einen Beobachter, der sich in einem Boot mit dem Wasser mitbewegt. Sie ist
und damit um den konvektiven Anteil von
Im Folgenden wird die Herleitung für den Fall eines skalaren Feldes
Ein Beobachter, der sich zur Zeit
Dabei sind
Betrachtet man nun anstelle eines beliebigen Beobachters, der sich entlang einer beliebigen Raumkurve bewegt, speziell ein Fluidelement, das von einer Strömung mit den Geschwindigkeitskomponenten
Unter Einführung des Ortsvektors
Für eine vektorwertige Funktion
Man betrachte eine Fluidströmung mit dem (ggf. zeitabhängigen) Geschwindigkeitsfeld
Eine Strömung ist stationär, wenn das Geschwindigkeitsfeld nicht explizit von der Zeit abhängt:
In diesem Fall bleibt das Stromlinienmuster zeitlich unverändert und ein Fluidteilchen, das sich zu einem gegebenen Zeitpunkt auf einer bestimmten Stromlinie befindet, wird dieser Stromlinie im zeitlichen Verlauf weiter folgen.
Wenn sich für eine stationäre Problemstellung durch geeignete Überlegungen ermitteln lässt, dass
ist (wegen
Falls die Strömung instationär ist, hängt das Geschwindigkeitsfeld explizit von der Zeit ab. Wenn für eine gegebene Problemstellung gilt, dass
ist, dann folgt daraus, dass für jedes Fluidelement auf seinem Weg
In diesem Fall heben sich lokale und konvektive Änderungen auf dem Weg des Fluidelements stets gegenseitig auf.
In diesem Beispiel wird die substantielle Ableitung des Geschwindigkeitsfeldes
Man betrachte ein Fluidelement mit dem Volumen
Ist das Fluidelement ein Quader mit den Seitenlängen
Die im Gravitationsfeld auf das Fluidelement der Masse
Gemäß dem Zweiten Newtonschen Gesetz ist das Produkt aus Masse
Kürzen liefert die Euler-Gleichung:
In Komponenten ausgeschrieben lautet sie:
Fügt man als weitere Kraft die in einem viskosen Fluid auftretende Scherkraft hinzu, ergibt sich die Navier-Stokes-Gleichung.
Die substantielle Ableitung wird besonders in der Kontinuumsmechanik verwendet. Dazu gehören zum Beispiel die Bilanzgleichungen der Fluidmechanik oder der Festkörpermechanik in den Ingenieurwissenschaften. Sie taucht dort häufig dann auf, wenn das Verhalten des physikalischen Systems durch den Erhalt von Masse, Energie u. ä. beschrieben wird.
Grenzen des Begriffes und dessen Anwendung ergeben sich, wenn die Definition von materiellen Punkten oder zugehörigen Geschwindigkeiten fehlschlagen. Dies ist zum Beispiel in der Mischungstheorie mit mehreren Phasen oder auf atomarer Ebene der Fall, wenn kein Kontinuum mehr vorliegt. Unter Umständen wird der Begriff eines materiellen Punktes oder seiner zugehörigen Geschwindigkeit angepasst.